SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Zwei Augen auf orangefarbenem Hintergrund – mehr ist vom Gesicht nicht zu sehen. „Du siehst mich.“ Die drei Worte sind nicht auf einer Linie geschrieben: Wie ein fröhlich lachender Mund biegen sie sich an den Seiten heiter nach oben. So sieht das Plakat für den diesjährigen Evangelischen Kirchentag aus. Es ist schon seit einigen Wochen zu sehen. An großen Plakatwänden. Oder in Bahnhöfen.

Der Kirchentag beginnt heute in Berlin. Mir gefällt sein Motto. Und mir geht vieles durch den Kopf, wenn ich über diesen Satz nachdenke. „Du siehst mich.“ Vielfach wird er wirklich werden in den nächsten Tagen in Berlin. Ich bin sicher: Auch in werde inmitten der mehr als Einhunderttausend Menschen entdecken, über die ich mich freue. „Schön, dass ich dich sehe!“, werde ich sagen. Und ich werde spüren: Gesehen werden heißt: Beachtung geschenkt bekommen. Ausgesondert werden aus der unüberschaubaren Masse. In meiner Besonderheit gewürdigt und eben entdeckt, gesehen. Mitten unter Tausenden.

 „Du siehst mich.“ Die Geschichte hinter dem Satz wird in der Bibel erzählt. Hagar, die schwangere Magd Abrahams flieht vor Sara, ihrer Herrin, in die Wüste. Dort begegnet ihr Gott. Und holt sie aus ihrer Isolation. Hagar gibt Gott einen Namen. Sie sagt zu ihm: „Du bist Gott, der mich sieht!“ (1. Mose 16.13) Ich finde: Schöner kann man von Gott nicht sprechen. Schöner kann ich nicht beschreiben, was Gott ausmacht. Gott sieht mich. Das macht mich einzigartig. Das hebt mich heraus aus der Masse von mehr als sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten Erde. Das gibt mir Gewicht, wenn ich über meinen eigenen Wert ins Grübeln gerate.

 „Du siehst mich.“ Dieser Satz an Hagar, die Magd Abrahams kann helfen, Menschen auch heute noch an-sehnlich zu machen. Am besten dadurch, dass ich ihn nicht nur als Name für Gott verstehe. Sondern als eigenes Lebensprogramm. Indem ich Menschen bewusst in den Blick nehme. Nicht indem ich sie anstarre, sondern indem ich sie wahrnehme. Den Musikanten, der jeden Tag an derselben Stelle sitzt und ein paar Münzen im Becher hat. Die Kollegin, die in der Pause immer allein in ihrem Zimmer bleibt. Den alten Cousin, von dem ich schon länger nichts mehr gehört habe. Die Menschen auf der Flucht, die plötzlich aus meinem direkten Umfeld verschwunden sind. „Du siehst mich.“ Das ist eine konkrete Handlungsanweisung, um die Welt ein bisschen menschlicher zu  machen. Dazu muss ich gar nicht zum Kirchentag fahren. Ich muss nicht einmal der Kirche angehören. Ich muss nur meine Augen auf einen Mitmenschen richten. Dann ist der Kirchentag schon ein Erfolg, bevor er überhaupt begonnen hat.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24288
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