SWR2 Wort zum Tag

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„Was der andere ist, sollte dieser selbst sagen.“ So Alfred Grosser, der deutsch-französische Soziologe und Politikwissenschaftler in seinem aktuellen Werk „Le Mensch. Ethik der Identitäten“ (2017). Er setzt sich darin mit der Frage auseinander: Wer bin ich? Wer ist der Andere?

Der Europa-Vordenker Alfred Grosser wurde vor 92 Jahren in Frankfurt als Kind einer jüdischen Familie geboren, die in den 1930er Jahren noch nach Paris emigrieren konnte. Diese Erfahrungen prägten Alfred Grosser und machten ihn im Laufe seines Lebens zu einem überzeugten Europäer und leidenschaftlichem Kämpfer für Verständigung.

Grosser hat für sein Alterswerk den Titel „Le Mensch“ gewählt. Dazu Grosser in einem Interview: „Wogegen ich mich wehre ist der Finger, der auf einen zeigt. ‚Die‘ Deutschen, ‚die‘ Juden, die‘ Frauen, ‚die‘ Flüchtlinge. .. Es ist dieser Finger von außen, der den Menschen vergiftet, seine Menschlichkeit blockiert. ... Was der andere ist, sollte er selbst sagen. Häufig ist aber das Gegenteil der Fall: Der andere wird schlicht zu dem, was andere von ihm sagen.“ (Grosser in einem Interview in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung vom 21.04.17).

Anders-Sein grenzt nicht aus, sondern ist selbstverständlicher Teil des Humanum: Der Andere ist Mensch. Ich selbst bin ja auch immer wieder eine andere, ich muss nur die Perspektive wechseln. Denn ich habe viele Identitäten, und sei es nur, weil ich mehrere gesellschaftliche Zugehörigkeiten habe – Nationalität, Beruf, Familienstand, Herkunftsfamilie und so weiter.

Grossers These ist: Echtes Mitgefühl und echte Mitmenschlichkeit gibt es nur da, wo Menschen ihre Identität selbst bestimmen dürfen und von den jeweils Anderen darin anerkannt werden. - Stimmt. Ich möchte nicht von außen definiert werden. Ich will selbst Auskunft über mich geben.
Es ist gut, so Grosser, wenn man am Ende seines Lebens sagen kann, dass man seine Zeit genutzt hat, um Anderen zum Sein und zum Anderssein zu verhelfen.

Das finde ich einen schönen Gedanken. Ich lasse mich davon ermutigen und sehe vor mir diejenigen, denen ich diesen Respekt entgegenbringen möchte, trotz sprachlicher Schwierigkeiten, trotz kultureller Unterschiede, trotz unterschiedlicher Lebensentwürfe. Sie sind Andere. Sie sind wie ich. So steht es schon in der Bibel, im Gebot der Liebe zum Fremden: Du sollst ihn lieben wie dich selbst (3. Mose 19,34).

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24206
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