SWR2 Wort zum Tag

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Ein wunderbarer Frühlingstag, die Sonne scheint, die Vögel singen. Ein Traum in frischem Grün – und doch ein Alptraum. Der 2. Weltkrieg geht mit dem 8. Mai 1945 offiziell zu Ende. Aber der Anblick des Friedens in Europa ist grauenhaft. Über Mailand liegt „der Gestank des Todes“, halbwüchsige Jungen fahren mit Maschinengewehren im Auto durch die Stadt. In Warschau weckt die Frühlingswärme „entsetzliche Gerüche“ aus den zerbombten Wohnhäusern. In Paris hungern die Menschen, weil das Brot rationiert ist. Max Frisch, der Schweizer Schriftsteller, streift durch das zerstörte Frankfurt und die Ruinen von München. „Die Ruinen stehen nicht, sie versinken in ihrem eigenen Schutt, ...einmal eine Abortröhre, die in den blauen Himmel ragt, drei Anschlüsse zeigen, wo die Stockwerke waren. Es ist alles, wie man es von Bildern kennt; aber es ist, und manchmal ist man erstaunt, dass es kein weiteres Erwachen gibt.“

Kein Erwachen für die Flüchtlinge, die sich hungernd durch die zerschossenen Bahnhöfe schleppen, kein Erwachen für die Bewohner der Trümmerwüsten und Keller, die nach den Bombennächten noch übrig geblieben sind. Kein Erwachen in einer heilen Welt für die schlafenden Kinder, die auf dem Schutt liegen, ihre „Köpfe zwischen den knöchernen Armen“.

Der 8. Mai 1945 erinnert daran, wie schnell sich eine Welt, wie wir sie kennen, in Schutt und Asche legen lässt. Ein Jahr danach gedeihen auf den Trümmerhaufen schon Büsche und Moos. Max Frisch schreibt: „Das Gras, das in den Häusern wächst, der Löwenzahn in den Kirchen, und plötzlich kann man sich vorstellen, wie es weiterwächst, wie sich ein Urwald über unsere Städte zieht, langsam, unaufhaltsam, ein menschenloses Gedeihen, ein Schweigen aus Disteln und Moos, eine geschichtslose Erde, dazu das Zwitschern der Vögel, Frühling, Sommer und Herbst, Atem der Jahre, die niemand mehr zählt.“ Eine geschichtslose Erde, das heißt: endlich eine friedliche Erde.

Aber beim Anblick der halb verhungerten Kinder, die auf den Trümmerbergen spielen, kommt dem Schriftsteller der Gedanke: Gleichgültig, was ihre Mütter und Väter getan haben: „Wir schulden (den Kindern), mehr als Erbarmen; wir dürfen sie nicht einen Augenblick lang anzweifeln, oder es wird unsere Schuld, wenn sich alles wiederholt.“

Der 8. Mai – ein Tag, der uns an den Mut erinnert, mit uns, den Nachgeborenen, noch einmal neu anzufangen.

 

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