SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Manchmal stehen wir auf, stehen wir zur Auferstehung auf mitten am Tage…“ so heisst es in einem Ostergedicht von Marie Luise Kaschnitz. Und weiter:„Nur das Gewohnte ist um uns.“ Mir gefällt dieser Text sehr gut, weil er den Blick lenkt auf die Momente im alltäglichen Leben, die wie Kraftquellen wirken. Die können ganz unterschiedlich aussehen: Wenn mir schlagartig etwas klar wird, wenn ein Wort genau in meine Situation trifft und mir hilft, wenn ein Mensch in mein Leben tritt und es schafft mich neu zu motivieren, wenn in meinem Ringen um den Glauben die Gewissheit aufblitzt, dass es Gott wirklich gibt. Das sind Erfahrungen, die man nicht planen kann, das sind Geschenke, die das Leben würzen und neu Kraft geben. Eine solche Stärkung habe ich von meiner letzten Reise mitgebracht. Vor Ostern konnte ich wieder einmal eine Zeit in Jerusalem verbringen. Diese Stadt mit ihren drei großen Religionen zu erleben, besonderes die Nähe zu den biblischen Stätten - schon allein das gibt mir jedesmal Rückenwind für meinen Alltag zuhause.       Dieses Mal kam aber eine Geschichte dazu, die ich nicht glauben würde, die ich als märchenhaft konstruiert bezeichnen würde, wenn sie mir nicht von einem mir sehr vertrauten Augenzeugen glaubhaft geschildert worden wäre. Sie erzählt von einer Straßenszene nahe der Altstadt von Jerusalem. Ein palästinensicher Taxifahrer hält mit seinem Wagen an seinem gewohnten Standort, steigt aus, holt seinen Gebetsteppich aus dem Kofferraum und beginnt mitten im Trubel am Straßenrand sein Gebet. Er ist Muslim. Dann fängt es an zu regnen. In der Nähe eilt ein orthodoxer Jude in seiner schwarzen Kleidung vorbei. Mit einem aufgespannten Regenschirm. Er sieht den knienden Mann auf seinem kleinen Teppich, stoppt, geht zu ihm hin und hält seinen Regenschirm solange über den Betenden bis der sein Gebet beendet hat. Dann umarmen sich beide kurz und wortlos und jeder geht seiner Wege. Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut - im positiven Sinne - wenn ich mir diese Szene vor Augen führe. Kann man schöner den gegenseitigen Respekt von Glaubenden beschreiben, auch wenn sie verschiedenen Religionen angehören? Und diese Geschichte spielt in einer konfliktgeladenen Stadt, die von ganz anderen, traurigen Szenen zwischen Israelis und Palästinensern zu erzählen weiß. Sie ist ein Lichtblick, ein Hoffnungszeichen, ein Geschenk des Himmels. „Manchmal stehen wir zur Auferstehung auf. Mitten am Tage.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24127
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