SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Auf dem Altar in unserer Kirche steht ein Kreuz. Und darum gab es eine Menge Diskussionen. Es ist sehr filigran, aus Bronze, verschwimmt farblich mit dem Sandstein, aus dem unsere Kirche gebaut ist. Deswegen ist es nicht leicht zu sehen. Man muss schon genau hingucken. Was soll denn das, haben manche geschimpft. Da kaufen sie ein Kreuz, das man gar nicht sieht. Ein unsichtbares Kreuz. Dabei ist das Kreuz so ein wichtiges Symbol des christlichen Glaubens. Für das Geld hätte man doch wirklich etwas Besseres kriegen können.

Finde ich nicht. Ich mag unser Kreuz. Gerade deshalb, weil es unsichtbar ist. Weil man die Augen scharf stellen muss, um es überhaupt zu sehen. Denn: Ich bin umgeben von Menschen, bei denen das ganz genauso ist. Menschen, die ihr Kreuz tragen. Und keiner sieht es.

Ich denke an eine Freundin, die so tapfer mit ihrer Krebserkrankung umgeht. An einen Bekannten, der seine Erschöpfung still und heimlich in einer Klinik behandeln lässt. An den jungen Syrer, der sonntags im Gottesdienst sitzt und seine Eltern vermisst. Lauter Kreuze, die keiner sieht und vielleicht auch keiner sehen soll. Und die dennoch da sind.

Heute am Karfreitag denke ich besonders an dieses eine Kreuz vor zweitausend Jahren auf einem Felshügel vor der Stadt Jerusalem, genannt Golgatha. Auf dem Weg standen sie noch in rauen Mengen, haben zugeschaut, wie Jesus sich abgequält hat mit seinem Kreuz. Aber als es richtig traurig wurde, hat es keiner mehr sehen wollen, war so gut wie keiner mehr da. Da gingen alle längst wieder ihren Alltagsgeschäften nach.

Deshalb sitze ich in unserer Kirche und suche mit meinen Augen das Kreuz auf dem Altar. Und denke an all die Menschen, die ihr Kreuz tragen. Sichtbar und unsichtbar. Und zumindest heute gehe ich meinen Alltagsgeschäften nicht nach. Sondern bleibe in Gedanken bei all jenen, die in diesen Tagen Leid und Kummer tragen. Und vielleicht Kraft daraus schöpfen, dass andere ihr Elend nicht übersehen und übergehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24009
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