SWR3 Gedanken

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Sie hätten nicht gewusst, wen sie verhaften sollen. Die römischen Soldaten. Sie hatten Befehl, einen zu ergreifen, der als Verbrecher gesucht wurde und an dem die Obrigkeit ganz offensichtlich viel Interesse hatte. Jesus von Nazareth. Aber weil sie sein Gesicht nicht kannten, hätten sie hilflos wieder abziehen müssen.

Wenn da nicht ein Verräter gewesen wäre. Ein Freund, der ihn kannte. Der monatelang mit ihm durch das Land gezogen war. Der sein Vertrauen hatte. Und der ihn jetzt verkauft an die, die ihn hängen werden. Indem er ihn küsst. Judas Iskarioth küsst seinen Freund, den Nazarener Jesus. Mit einem Kuss beginnt der Weg des Leidens. Mit einem Kuss beginnt der Weg in den Tod.

Wie abscheulich. Wie traurig. Weil ein Zeichen größter Nähe zum Zeichen des Verrats wird. Wenn Menschen sich küssen, dann eigentlich, weil sie einander vertrauen. Wenn Menschen sich küssen, fallen die Barrieren der Fremdheit. Wenn Menschen sich küssen, dann geschieht das aus Liebe. Nicht aus Berechnung oder Taktik. Sollte man meinen. Der Kuss als Zeichen der Liebe und des Lebens. Aber auch dieses Zeichen ist offensichtlich vor Missbrauch nicht geschützt. Damals in Jerusalem nicht. Und heute unter uns auch nicht.

Ein Mann küsst seine Frau, obwohl er längst eine andere hat. Ein Vater küsst seine Kinder, nachdem er sie verprügelt hat. Ein Staatsmann küsst einen anderen und plant längst den Krieg gegen ihn. Und Judas Iskarioth küsst seinen Freund, um ihn auszuliefern.

Der durchschaut den Verrat, die Verlogenheit dieses Kusses. Und nennt Judas dennoch „Freund“. Ob Judas sich in diesem Moment für seinen Kuss geschämt hat? Ihn am liebsten zurückgenommen hätte? Ich will es ihm zutrauen. Will glauben, dass ihm in diesem Moment die Augen aufgegangen sind. Über den Wert der Freundschaft und der Liebe. Darüber, wie leicht es ist, dies alles zu verraten. Und wie sehr es dem Leben schadet, wenn Menschen das tun.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24007
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