SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Menschenmassen säumen die Straßen. Kinder juchzen und jubilieren. Palmenzweige werden auf dem Boden ausgebreitet. Jesus zieht ein in Jerusalem. So erzählt die Bibel die Geschichte vom Sonntag vor Ostern. Da herrscht im Volk noch Jubel, Trubel, Heiterkeit. Und dazwischen einer, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Ein Esel.

Gestern stand er noch in seinem Stall, knabberte zufrieden an seinem Stroh. Und dann kamen Männer und nahmen ihn mit. Und ehe er’s sich versah, saß einer auf ihm, ein anderer führte ihn und viele Menschen riefen „Hosianna“. Eine ziemliche Herausforderung für einen einfachen Esel.

Das muss ja jemand ganz Besonderes sein, denkt sich der Esel. Vielleicht ein König, den ich da auf meinem Rücken trage. Auf jeden Fall einer, den die Menschen lieben. Würden sie sonst lachen und jubeln, würden sie ihm sonst so einen Empfang bereiten? Und ein wenig stolz hebt der Esel den Kopf und gibt sich große Mühe, stattlich auszusehen.

Am nächsten Tag ist für ihn schon wieder alles vorbei. Er steht in seinem Stall und knabbert an seinem Stroh. Was wohl aus dem König geworden ist, geht ihm durch den Kopf. Ob sie ihn auf Samt und Seide betten, ihm eine Krone auf den Kopf setzen und vor ihm niederknien? Ganz bestimmt, denkt der Esel. Wie soll es anders sein?

Es war ganz anders. Es gab eine Krone, aber sie war aus Dornen. Statt Samt und Seide gab es Hohn und Spott. Und viele von denen, die gerade noch „Hosianna“ jubelten, forderten jetzt lautstark seinen Tod. Und der König namens Jesus landete am Kreuz. Der Esel hätte das nicht verstanden. Denn Esel sind eigentlich sehr kluge Tiere.

Klüger jedenfalls als Menschen, die heute dem und morgen einem anderen nachlaufen. Die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen und jede Parole mitplärren, nur weil sie laut ist. Da fragt man sich schon manchmal, wer denn eigentlich der Esel ist.

 

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