SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Heute vor 30 Jahren, am 18. Oktober 1977, wurde Hanns Martin Schleyer ermordet, der Präsident der deutschen Arbeitgeberverbände. Mit seiner Entführung am 5. September sollte vom Staat die Freilassung von inhaftierten Terroristen, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Irmgard Möller, erpresst werden. Die Ereignisse dieses sogenannten „deutschen Herbstes“ sind wohl das finsterste Kapitel in der Geschichte der Bundesrepu-blik Deutschland. Als sich die damalige Bundesregierung den Forderungen der Entführer verweigerte, entführten diese am 13. Oktober die Lufthansa-Maschine Landshut mit 91 Menschen an Bord. Das Flugzeug wurde am 18. Oktober in Mogadischu in Somalia ge-stürmt und befreit, der Pilot war zuvor von den Entführern ermordet worden. Gudrun Ensslin und Andreas Baader nahmen sich unmittelbar danach in ihren Stammheimer Ge-fängniszellen das Leben. In der Nacht vom 18. auf 19. Oktober wurde der Leichnam Hanns Martin Schleyers gefunden.
Mir ist dies alles noch in bedrückender Erinnerung. Eine ungeheuere Tragik ist damit ver-bunden. „Gewalt ist immer ein Element der Verzweiflung“, dieses Wort von Thomas Mann habe ich im Zusammenhang mit den Terrorakten jener Zeit gelesen. Ich sehe durchaus die tragische Verzweiflung ideologisch verhärteter Weltverbesserer, die am Ende zu Ver-brechern wurden. Darüber darf aber die Verzweiflung und die Tragik der Opfer auf keinen Fall vergessen werden. Nicht zuletzt denke ich an die Tragik der Politiker, die entschieden haben, das Leben eines Menschen zu opfern, um den Rechtsstaat vor Erpressung zu schützen. Einige von ihnen waren mit Hanns Martin Schleyer befreundet. Menschenleben gegen die Gefährdung anderer Menschenleben abzuwägen, Menschenleben der Staatsrai-son zu opfern - ich stelle es mir entsetzlich vor, vor eine solche Alternative gestellt zu werden. Helmut Schmidt, der damalige Bundeskanzler, hat dies immer wieder als die bedrückendste Erfahrung seiner Amtszeit bezeichnet. Und die Erinnerungen des damali-gen Innenministers Hans-Jochen Vogel an diese Ereignisse lesen sich erschütternd. Das sind Extremsituationen, die sich weder gesetzlich regeln noch rational erklären lassen. Sie werfen einen Menschen radikal auf die Einsamkeit seines Gewissens zurück. Das ist tragisch. Schuldig zu werden, ohne eine Erklärung dafür zu finden; in verzweifelte Situa-tionen zu geraten, ohne einen Ausweg zu sehen – das ist tragisch. Für Tragik gibt es kei-ne Erklärung. Sie kann einfach in unser Leben einbrechen. Und wir müssen darüber ver-zweifeln, wenn wir nicht an eine ebenso unfassbare Liebe glauben können, die vergibt und versöhnt.
Die Tragik scheint einem liebenden Gott zu widersprechen. Ohne den Glauben an einen liebenden Gott müssten wir aber an der Tragik zerbrechen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2365
weiterlesen...