SWR2 Wort zum Tag

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Wie es soll es aussehen, „unser Land“? Das Land in dem wir leben wollen und das auch unsere Kinder später einmal als „unser Land“ bezeichnen können? Bundespräsident Joachim Gauck hat diese Frage zu Beginn seiner Amtszeit vor fünf Jahren gestellt. Und jetzt hat er  sie in seiner bewegenden Abschiedsrede wiederholt. 

Ja, wie soll es aussehen, unser Land? Das frage ich mich als Bürger, das frage ich mich als  Christ und als Mitglied einer Kirche, die an der Gestaltung unseres Landes und unserer Gesellschaft einen wichtigen Anteil hat. 

Eine Antwort auf diese Frage ist mir besonders wichtig: Ich möchte in einem Land, in einer Gesellschaft und auch in einer Kirche leben, in der es nicht die Ausnahme ist, sondern selbstverständlich, dass Menschen sehr verschieden sind und das Leben bunt ist. Das ist für die einen immer schon klar, für andere soll es genau so nicht sein. Ich erlebe zurzeit beides: eine große Offenheit gegenüber anderen Menschen mit unterschiedlicher ethnischer, kultureller, religiöser Prägung; gegenüber einer Vielfalt von Möglichkeiten, zu denken, zu glauben, das  Leben zu gestalten. Aber andererseits gibt es bei vielen Menschen auch ein starkes Bedürfnis, sich abzugrenzen. Sie wollen sich an etwas halten können, das scheinbar sicher und wahr ist. Und sie fordern dies zum Teil vehement ein. 

Ich glaube, dass wir heute herausgefordert sind, neue Visionen zu entwickeln, wie dies schon sehr lange nicht mehr der Fall war. Meine Vision ist es, dass Menschen so mit einander leben, dass Vielfalt nicht die Ausnahme, sondern das Selbstverständliche ist. Dass dies nicht nur widerwillig hingenommen wird, weil es doch nicht zu ändern ist, sondern dass es angenommen und bejaht wird. Ich wünsche mir ein Gemeinwesen, in dem nicht an erster Stelle die Frage steht: „Wo kommst Du her? Was denkst Du? Wie lebst Du?“, sondern: „Wer bist Du?“ Der andere ist Mensch wie ich. Darum geht es.

Es gibt Menschen, die sich vor einem solchen Zukunftsbild fürchten und es ablehnen. Wenn ich Vielfalt bejahe, dann muss ich auch sie und ihre Argumente ernst nehmen. Ich weiß: was meinen eigenen Überzeugungen widerspricht, das möchte ich nicht so gerne hören. Widerspruch macht meinen eigenen Standpunkt natürlich nicht einfacher. Doch ziehe ich dort die Grenze, wo jemand einem anderen Menschen seine Würde abspricht, sein Recht darauf, anders zu leben, zu denken, zu glauben. Das muss uns bei aller Vielfalt verbinden: dass wir die Würde des anderen Menschen achten. Und in einem Land, in dem das gilt, möchte ich leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23643
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