SWR2 Wort zum Tag

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Der schwedische Schriftsteller Henning Mankell ist vor allem wegen seiner Krimis mit Kommissar Wallander bekannt geworden. Im Oktober 2015 ist er gestorben. Er war schwer krebskrank. In seinem letzten Buch hat er über sein eigenes Leben nachgedacht und sich zugleich der Frage gestellt: „Was es heißt, ein Mensch zu sein.“ „Treibsand“ heißt das Buch.[1]

Am Ende des Buchs kommt er auf die zahllosen Menschen zu sprechen, denen er im Laufe seines Lebens begegnet ist. „Im Leben umgeben dich unzählige Menschen”, schreibt Henning Mankell. „Viele nimmst du einen Moment lang wahr, vergisst sie aber sofort wieder. Mit anderen hast du einen kurzen Augenkontakt. Und mit einem Teil dieser Menschen führst du Gespräche. Außerdem hast du deine Familie, deine Freunde und Bekannten, die dir nahestehen. […]  Aber die allermeisten sind einfach Menschen, die zufällig gleichzeitig mit dir leben. Millionen Menschen, die einen kurzen Besuch auf der Erde machen, der sich mit deinem überlappt.”[2]

Ich kenne solche Gedanken. Wie  vielen Menschen bin ich schon begegnet: nahe stehenden Menschen, die mich lange begleitet haben; Menschen, mit denen ich beruflich zu tun hatte? Kurze Begegnungen sind mir unvergesslich geblieben, andere waren schnell wieder aus der Erinnerung verschwunden.  Schicksale haben mich berührt – manchmal konnte ich helfen, oft auch nicht. Wie würde mein Leben aussehen ohne diese Menschen? Was verdanke ich ihnen? Manches wäre vielleicht ganz anders verlaufen, wenn andere Menschen meinen Weg gekreuzt hätten – und ich ihren. Denn auch ich habe das Leben dieser Menschen beeinflusst, bewusst oder ohne es zu wissen. Mit oder ohne Absicht. Wem hat die Begegnung mit mir gut getan, wem habe ich geschadet?

Für vieles bin ich dankbar, über vieles glücklich – an manchem trage ich schwer. Leben ist vieldeutig, daran ist nichts zu ändern. Aber eines ist mir bei Henning Mankells Zeilen wieder einmal deutlich geworden: Mein Leben ist nicht nur mein Leben; es ist ein Netzwerk von Leben – weit verzweigt, eigentlich unüberschaubar. Niemand lebt für sich allein, nur im Wir sind wir Menschen.



[1]Henning Mankell, Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Wien 2015.

[2] A. a. O. 382.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23635
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