SWR2 Wort zum Tag

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Der Schriftsteller Günter Grass wird heute 80 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch! Glück-wunsch auch den Leserinnen und Lesern, die sich von ihm geistig beschenkt und bereichert wissen. Ich selbst gehöre auch dazu.
Ich weiß, dass sich an Günter Grass die Geister scheiden. Sein wohl berühmtester Ro-man, „Die Blechtrommel“, hat ihm einst den Schimpfnahmen „Pinscher“ eingetragen. Aber das lag wohl daran, dass Grass sich damals – im Jahr 1966 - aktiv in den Bundes-tagswahlkampf eingemischt hatte. Dies hat er auch später mehrfach getan. Und es gab immer Menschen, die ihm zugestimmt haben, und andere, die ihn heftig kritisiert haben. Das rührt wohl auch daher, dass seine Romane einerseits in epischer Erzählfreude die Geschichte seiner Heimatstadt Danzig, Pommerns, Ostpreußens oder Brandenburgs spiegeln, andererseits aber auch kritische Fragen an seine Zeitgenossen stellen - Fragen an die Haltung im Nationalsozialismus, Fragen an die Funktion der Kultur im DDR-System, Fragen an die Verlierer wie die Gewinner der Wende. Ich habe Günter Grass persönlich kennen und schätzen gelernt, als er bei einer Pressekonferenz sein Buch „In einem reichen Land“ vorgestellt hat. Ich habe ihm geglaubt, dass ihm dieses Buch über soziale Gerechtigkeit in Deutschland am meisten von allen seinen Büchern am Herzen gelegen habe. Und ich habe sein Buch „Mein Jahrhundert“ deshalb bewundert, weil er darin das 20. Jahrhundert Jahr für Jahr in vielen Einzelgeschichten aus dem Blickwinkel der eher unbedeutenden Ereignisse und der kleinen Leute erzählt hat.
Geschichte ist Lebensgeschichte von Menschen und fast immer auch zwiespältig. Bei Günter Grass zeigt sich das besonders deutlich, als er in seinem autobiographischen Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ bekennt, dass er in der Waffen-SS war. Vielen anderen hatte er ihre Rolle im Nationalsozialismus vorgeworfen. Seine Richterrolle über andere wird dadurch fragwürdig, gewiss. Seine persönliche Art und Weise, in diesem Buch mit der eigenen Lebensproblematik umzugehen, betrachte ich dennoch als ehrlich. Wie wäre ich denn mit diesem dunklen Schatten meiner Lebensgeschichte öffentlich umgegangen – und mit der Scham, die über die Jahre hinweg zunehmen musste?
Das literarische Lebenswerk von Günter Grass ist in seiner Bedeutung unbestritten. Die Zerrissenheit, die die Personen und die geschichtlichen Ereignisse in seinen Büchern kennzeichnet, spiegelt vielleicht auch die persönliche Problematik des Autors Günter Grass wider. Wird darin nicht die Zwiespältigkeit unseres Lebens überhaupt sichtbar? https://www.kirche-im-swr.de/?m=2363
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