SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ich benütze zwei Gesichtscremes. Weil ich Probleme mit der Haut habe, hilft mir das. Eine ist für den Tag, die andere für die Nacht. Auf den ersten Eindruck kann ich bei beiden keine Unterschiede feststellen. Sie riechen gleich und beim Eincremen fühlt sich das auch gleich an. Auf der Verpackung stehen die üblichen Allgemeinplätze, wofür die jeweilige Creme gut ist. Na gut, wenn’s hilft ...

Als ich die Cremetiegel unlängst wieder in der Hand hatte, ist mir dann doch ein markanter Unterschied aufgefallen. Sie tragen unterschiedliche Titel, die Cremes: Die Tagescreme ist mattierend, die für die Nacht klärend. Offen gestanden habe ich bislang nicht bemerkt, dass sich das auf meinem Gesicht zeigt; dass da etwas weniger glänzt beziehungsweise sauberer aussieht. Trotzdem bin ich an diesem Unterschied hängen geblieben. Weshalb ist das so, dass die eine Creme mattierend sein muss, die andere klärend? 

Tagsüber ein bisschen matt, also weniger hell und glänzend. Weil ich sonst zu sehr auffalle? Oder mein Gegenüber erschrecken könnte? Die Creme deckt ein bisschen ab, wo ich empfindlich bin, allergisch reagiere. Lieber ein bisschen zurückhaltend, vorsichtig, gebremst. Meine Hautunreinheiten braucht nicht jeder zu sehen. Ich denke, was fürs Gesicht gilt, passt zu allem, was am Tag so statt findet. Meistens ist es besser, seine ganze Energie nicht sofort und auf einmal zu vergeuden. Stattdessen die Kräfte einzuteilen, damit es für einen langen Tag reicht. Und es ist auch kein Fehler, wenn es bei einer Begegnung den zweiten Blick braucht, um den anderen richtig zu sehen und zu verstehen: wer er ist und was ihn ausmacht. Ein bisschen Mattierung, die schützt, könnte dazu helfen. Weil sie nicht nur für einen selbst angenehm ist, sondern auch für den anderen, der mit mir zu tun hat.

Für die Nacht dann die klärende Creme. Da hab ich die Parallele zwischen meinem Gesicht und dem, was am Abend meiner Seele gut tut, auf Anhieb verstanden. Der Schmutz des Tages muss weg. Die Ablagerungen. Das, was die Poren verstopft. Es tut gut, ein möglichst gutes Gewissen zu haben, sich nicht unrein zu fühlen. Damit es nicht beim Einschlafen oder während der Nacht wieder hoch kommt und den Schlaf stört, lasse ich also das los, was ohnehin nicht weiter führt: was mich geärgert hat, worüber ich frustriert bin, was ich trotz aller Mühe nicht geschafft habe.

Ich weiß: Mit der Seele geht es nicht so leicht wie mit meinem Gesicht. Deshalb hoffe ich: Wenn ich mit der Anwendung - des Tags und des Nachts - konsequent genug bin, wird sich im Laufe der Zeit auch eine Tiefenwirkung in meiner Seele zeigen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23546
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