SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ein Sprichwort sagt: „Das Abenteuer beginnt vor deiner Haustür.“ Mir gefällt die Formulierung. Weil sie etwas feststellt, was mich provoziert. Und weil sie auch etwas von mir verlangt. 

„Das Abenteuer beginnt vor deiner Haustür.“ Zuerst zur Feststellung. Es gibt also Abenteuer. Und sie sind näher an mir dran, als ich das vermute. Verlasse ich das Haus, stecke ich mitten drin. Sagt dieses Sprichwort. Spätestens jetzt beginne ich neugierig zu werden und nachzudenken. Worin besteht denn das Abenteuer, das auf mich wartet, draußen, vor der Tür?

Ich denke, das können ganz einfache Dinge sein. Jetzt, in der kalten Jahreszeit, muss ich aufpassen, dass ich nicht stürze, wenn’s Schnee oder Glatteis hat. Oder jemand könnte meine Hilfe brauchen, und ich bin gar nicht darauf gefasst. Meine Ärztin teilt mir etwas mit, was ich lieber nicht hören würde: „Bewegen Sie sich mehr. Nehmen Sie ab. Tun Sie was für Ihren Kreislauf!“ Von meiner Mutter weiß ich, dass sie es schon als ein großes Abenteuer betrachtet, wenn ich sie zu mir einlade, und sie ein paar Tage nicht in ihrer gewohnten Umgebung ist. In den eigenen vier Wänden ist man sicher. Aber sobald man den Fuß vor die Tür setzt, geht es los. Jeden Tag ist etwas neu und anders. Ich muss mich anpassen oder auflehnen. Es kostet mich Anstrengung. Und manchmal muss ich sogar kämpfen, um nicht unterzugehen. - Das ist das Abenteuer Leben. Es beginnt tatsächlich vor der eigenen Haustür. 

Und damit sind wir bei der Herausforderung, die in dem Sprichwort steckt. Sie lautet: „Geh vor die Tür. Bleib nicht daheim. Sei kein Stubenhocker!“ Abenteuer sind also offenbar dazu da, angepackt zu werden. Das Leben will gelebt werden. Mein Leben. Es nützt nichts, wenn ich mich verbarrikadiere. Irgendwann geht sie auf die Türe, hinter der ich mich verstecke, spätestens dann, wenn ich abgeholt werde, zur letzten Reise.

Aber so weit will ich es nicht kommen lassen. Ich will mich dem Abenteuer schon vorher stellen. Ich will leben, nicht gelebt werden. So lange es nur geht. Eine fast neunzigjährige Frau aus meinem Freundeskreis ist dabei für mich ein wunderbares Vorbild. Sie ist mehrmals schwer gestürzt. Sie spürt, dass ihre Kräfte nachlassen. Sie hat erst vor kurzem ihren Mann verloren, mit dem sie über fünfzig Jahre verheiratet war. Mittlerweile kann sie auf eigenen Beinen kaum noch das Haus verlassen. Aber im Geiste, im Bewusstsein, tut sie das jeden Tag. Sie schreibt E-Mails, telefoniert, liest, empfängt Besuch. Ich glaube, sie liebt das Abenteuer, weil es ihr Leben ist, bis zum letzten Atemzug.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23544
weiterlesen...