SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Der Mond ist aufgegangen ist eines meiner Lieblingslieder. Weil es mich nachdenklich macht und gleichzeitig tröstet, wenn ich es höre. Das tut mir am Abend gut. Besonders wenn ein Tag voll war. Aufregend oder anstrengend. Dann genieße ich es zu sehen, wenn der Mond aufgeht. Wie schon zu Zeiten von Matthias Claudius, der das Lied 1778 gedichtet hat. Der Mond ist aufgegangen, die hellen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Es ist Abend geworden und ich habe den Tag gemeistert, irgendwie. Manches war schwierig, einiges schön. Aber unterm Firmament hat sich schon so viel ereignet. Viel mehr als das, was mein kleines Herz beschäftigt. Das stimmt mich versöhnlich. Es entlastet und beruhigt mich. 

In der letzten Strophe des Lieds heißt es:

Verschon uns, Gott! mit Strafen,

Und laß uns ruhig schlafen!

Und unsern kranken Nachbar auch!

Dieser Hinweis auf den Nachbarn ist für mich das Wichtigste im ganzen Lied. Matthias Claudius spricht nicht in den höchsten Tönen von Gott, dem Herrn über Himmel und Erde. Der Dichter wird am Ende ganz schlicht und menschlich. Er spricht von dem, was ist und was jeder sofort versteht. Das ist ihm am Abend wichtig, bevor wir uns schlafen legen und dann ein neuer Tag mit neuen Anforderungen beginnt.

Da ist einer krank. Aber es ist eben nicht irgendeiner, sondern, der, der neben mir sein Haus hat, den ich jeden Tag treffe, wenn ich im Garten arbeite oder die Zeitung aus dem Briefkasten hole. Von dem ich weiß, wann er den Rollladen hochzieht und wann er Geburtstag hat. An diesen Nächsten erinnert das Lied an seinem Schluss. Und bittet mich darum, dass ich meinen Nächsten ebenfalls nicht vergesse. 

Nun habe ich tatsächlich einen kranken Nachbarn. Vor zwei Jahren hat man bei ihm Krebs diagnostiziert, und seitdem kämpft er. Mit unbändigem Willen. Wenn es nur geht, hält er sich an das, was er immer getan hat. Sein Tagesablauf gibt ihm Halt und die Arbeit lenkt ihn ab. Es beeindruckt mich, wie er durchhält bei den Therapien, die kein Ende nehmen. Aber er gibt nicht auf. Ich spüre seinen Willen, den Mond aufgehen zu sehen, heute und morgen, und immer wieder.

Wenn ich heute zu Bett gehe, gehe ich in Gedanken die Strophen des Liedes durch, die ich auswendig kenne: Der Mond ist aufgegangen ... Wir stolzen Menschenkinder (...) wissen gar nicht viel ... Gott, lass uns dein Heil schauen ... Und wenn ich dann beim kranken Nachbarn ankomme, denke ich ganz fest an meinen. Und lege ihn Gott ans Herz.

Herrn Gerhard Kopp zum Achtzigsten. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23542
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