Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Heiliger Abend in der Pfarrkirche. Vor dem Gottesdienst führen Grundschulkinder das traditionelle Krippenspiel auf. Längst sind alle Bänke besetzt. Walter ist schon ganz aufgeregt. Er soll einen Gastwirt spielen, der die Heilige Familie bei der Herbergssuche abweist. Eigentlich hätte er ja lieber die Rolle des Josef gehabt. Aber den spielt ein anderer aus der Klasse.
Und da kommen sie auch schon: Die schwangere Maria und Josef, ihr Verlobter. Sie klopfen an die Herbergstür. Walter öffnet. „Was wollt ihr denn?“ „Wir suchen eine Unterkunft.“ Der Gastwirt reagiert barsch: „Alle Zimmer sind belegt. Sucht anderswo!“ Josef gibt nicht auf: „Wir haben schon überall in Bethlehem gefragt. Nirgendwo ist etwas frei.“ „Da kann ich auch nichts machen“, faucht Walter zurück. „Aber seht doch, Maria ist schwanger und völlig erschöpft. Unsere Reise war sehr anstrengend. Habt Ihr nicht doch einen Platz für uns?“ Walter schweigt. Die Souffleuse spricht ihm vor: „Schert euch fort!“ „Nein! Schert euch fort“, antwortet Walter jetzt laut. Traurig legt Josef seinen Arm um Maria. Sie wenden sich ab und wollen ihren Weg fortsetzen. 

Eigentlich müsste der hartherzige Herbergsvater jetzt wieder ins Haus zurück. So steht es in der Regieanweisung. Aber Walter bleibt wie angewurzelt stehen und sieht den beiden nach. Und dann bricht es aus ihm heraus: „Halt! Kommt zurück! Ihr könnt mein Zimmer haben!“ Walter lächelt. Die Zuschauer sind verdutzt. Dann applaudieren die ersten. Und bald ist der Beifall in der Kirche ohrenbetäubend. So endet das Krippenspiel ganz unvermittelt. Für viele Besucher aber ist es die weihnachtlichste Aufführung, die sie je gesehen haben. Und das ganz ohne himmlische Heerscharen, Stall und Krippe. 

frei nach Lina Donohue; abgedruckt in: Hoffsümmer, Willi: Kurzgeschichten 5. Mainz, 1994, S. 15-16

 

 

 

 

 

 

Ein ungewöhnliches Krippenspiel

 

Heiliger Abend in der Pfarrkirche. Vor dem Gottesdienst führen Grundschulkinder das traditionelle Krippenspiel auf. Längst sind alle Bänke besetzt. Walter ist schon ganz aufgeregt. Er soll einen Gastwirt spielen, der die Heilige Familie bei der Herbergssuche abweist. Eigentlich hätte er ja lieber die Rolle des Josef gehabt. Aber den spielt ein anderer aus der Klasse.

 

Und da kommen sie auch schon: Die schwangere Maria und Josef, ihr Verlobter.

Sie klopfen an die Herbergstür. Walter öffnet. „Was wollt ihr denn?“

„Wir suchen eine Unterkunft.“ Der Gastwirt reagiert barsch: „Alle Zimmer sind belegt. Sucht anderswo!“ Josef gibt nicht auf: „Wir haben schon überall in Bethlehem gefragt. Nirgendwo ist etwas frei.“

„Da kann ich auch nichts machen“, faucht Walter zurück.

„Aber seht doch, Maria ist schwanger und völlig erschöpft. Unsere Reise war sehr anstrengend. Habt Ihr nicht doch einen Platz für uns?“

Walter schweigt. Die Souffleuse spricht ihm vor: „Schert euch fort!“

„Nein! Schert euch fort“, antwortet Walter jetzt laut.

Traurig legt Josef seinen Arm um Maria. Sie wenden sich ab und wollen ihren Weg fortsetzen.

 

Eigentlich müsste der hartherzige Herbergsvater jetzt wieder ins Haus zurück. So steht es in der Regieanweisung. Aber Walter bleibt wie angewurzelt stehen und sieht den beiden nach. Und dann bricht es aus ihm heraus: „Halt! Kommt zurück! Ihr könnt mein Zimmer haben!“

Walter lächelt.

Die Zuschauer sind verdutzt. Dann applaudieren die ersten. Und bald

ist der Beifall in der Kirche ohrenbetäubend.

 

So endet das Krippenspiel ganz unvermittelt. Für viele Besucher aber ist es die weihnachtlichste Aufführung, die sie je gesehen haben. Und das ganz ohne himmlische Heerscharen, Stall und Krippe.

 

frei nach Lina Donohue; abgedruckt in: Hoffsümmer, Willi: Kurzgeschichten 5. Mainz, 1994, S. 15-16

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23369
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