SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Auch wenn man es noch nicht so richtig merkt: Die Tage werden langsam wieder länger. Das hat einen Einfluss auf meine Stimmung. Auch sie hellt sich auf.

In dieser Zeit im Jahr denke ich gerne an eine alte rabbinische Geschichte.

Ein Rabbi fragt seine Schüler, wann die Nacht aufhört und der Tag beginnt. Wenn man einen Zwetschgenbaum von einem Pfirsichbaum unterscheiden kann? Oder einen Esel von einem Hund? Der Rabbi verneint diese Antworten. Als die Schüler ihn drängen, antwortet er: Die Nacht hört auf, wenn du in ein menschliches Gesicht schaust und es wird heller Tag, wenn du in diesem Gesicht deinen Bruder erkennen kannst.

Mir gefällt das. Wenn ich heute in die Bahn steige, kann ich den Anzugträger oder den Jugendlichen mit den Stöpseln im Ohr ja nach Art der Geschichte betrachten: Nicht als anonymen Bioorganismus, der einen Sitzplatz belegt, sondern als einen Menschen, der Sorgen und Sehnsüchte hat und in Beziehungen zu anderen lebt.

Wenn ich also zum Beispiel diesen Jungen mit den Stöpseln im Ohr wahrnehme, sehe ich vielleicht zuerst ein ernstes Gesicht. Wie die meisten Menschen in der Bahn wirkt er so, als ob er Distanz braucht und in Ruhe gelassen werden will. Das respektiere ich. So entspricht es den Verhaltensregeln in unserer Gesellschaft.

Aber wenn ich so ein Gesicht anschaue, stelle ich mir vor, welchen Gesichtsausdruck dieser Mensch hat, wenn er wirklich glücklich und zufrieden ist. Oder wie er aussieht, wenn ihn jemand tröstet und er Vertrauen hat. Durch diese Vorstellung gewinne ich eine Ahnung, dass hinter dem ersten fassadenhaften Eindruck mehr steckt als ich sehen kann: Ein Mensch mit Gefühlen, Sehnsüchten, Problemen und Plänen. Ich hoffe, dass das die Art verändert, wie ich auf andere zugehe und so dafür sorgt, dass Begegnungen entstehen können, die ich sonst nicht hätte.

Den Bruder oder die Schwester im Gesicht eines Fremden zu erkennen, ist noch etwas Anderes. Das heißt ja, dass wir als Menschen alle zusammengehören. Das wird natürlich nicht bei jeder S-Bahnfahrt deutlich, aber es kann sich zeigen, wenn ich mit anderen in Kontakt komme. Wenn ich einer Mutter mit Kind, Kinderwagen und Taschen beim Aussteigen helfe, dann kann das so betrachtet eben mehr als die banale gute Tat sein. Für mich kann das ein Zeichen dafür sein, dass wir als Menschen zusammengehören. Auch wenn wir uns nicht persönlich kennen, wir sind Brüder und Schwestern.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23315
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