Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Ausgerechnet in der Einkaufsmall habe ich Hannah getroffen, zwischen Glitzersternen, Elchen und Rauschgoldengel. Sie sieht blass aus in ihrem grünen Parka und ich weiß: das hier ist nicht ihr Ding. Diese Glitzerwelt im Advent, diese ganze Rührseligkeit, oder Heiligabend, wenn alle in ihren Familien zusammen sind- sie hat nie eine heile Familie erlebt. Und deshalb findet sie das mit Maria, Josef und dem Jesuskind nur kitschig.

Seit ich Hannahs Geschichte kenne, hat sie für mich einen festen Platz in Weihnachtsgeschichte. Für mich ist sie eine der Hirtinnen. Die hüten des Nachts ihre Herde. Und erschrecken zu Tode, als ein Engel auftaucht. Weil in der Nacht so viel passieren kann mit den Schafen. Jedes Geräusch könnte ein Überfall sein. Deshalb sind die Hirten auch so schreckhaft, als da ein Engel auftaucht.

So wie Hannah. Die ist auch sehr schreckhaft. Vor allem, wenn jemand ihr näher kommt. Diese Anspannung macht ihr Körper einfach nicht mehr mit. Aber wenn sie sich entspannt, kommen die Alpträume und die Erinnerungen. An früher, als sie noch klein war und als die Mutter sie geschlagen hat, immer wieder. Sie weiß, dass das lange vorbei ist. Aber die Angst sitzt ihr einfach in den Knochen. Die Angst vor einem Überfall, wenn ihr jemand  näher kommt. 

So wie damals bei den Hirten in der Weihnachtsgeschichte. Vor denen steht plötzlich eine fremde Gestalt. Aber sie versteht sofort, was los ist und sagt: „Fürchtet euch nicht. Ich hab eine gute Nachricht für euch. Gott ist Mensch geworden. Und er wartet auf euch. Macht euch auf den Weg. Sucht Gott und ihr werdet ihn finden. Als Kind in einer Krippe.“

Ich weiß nicht, ob Hannah sich auf den Weg machen wird. Aber ich wünsche ihr, dass sie nicht bleibt, wo sie ist. Dass sie nicht meint, fertig zu sein mit Gott und der Welt. Dass sie sich auf den Weg macht, so wie die Hirten. Und an das Wunder glaubt: dass Gott ihr begegnet. In einem Menschen, in einem Kind, in der Stille einer leeren Kirche. Das feiern wir an Weihnachten. Gott gibt keinen Menschen verloren. Und wir sollten es auch nicht tun.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23281
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