Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Mein Vater setzte sich, als wir klein waren, jeden Abend zu uns Kindern ans Bett. Das war ein Ritual. Er fragte uns, was wir den Tag über gemacht hätten, fragte, wie es uns ergangen sei, fragte nach den Erlebnissen, die einem das Einschlafen oder die Nacht schwer machen könnten.

Wir Kinder antworteten meist – jedenfalls, wenn nichts Schlimmes vorgefallen war - mit nur wenigen Worten. Denn wir wollten schnell zum nächsten Punkt des Abendrituals: Vater erzählte. Oder er las vor.
Das war wunderbar.

Wir tauchten ein in die Welt von Hänsel und Gretel, schüttelten den Kopf über Hans im Glück, und Hans-Christian Andersen erfüllte uns mit tiefempfundenem Mitgefühl. Heiligenlegenden spiegelten uns eine schillernde Welt vor und biblische Geschichten erfüllten uns mit großer Ehrfurcht.

Eine ganze Welt lernten wir so kennen, und die Figuren der Erzählungen lebten in uns weiter. Sie halfen uns, die Welt zu verstehen, zu verstehen, was Gut und Böse ist und Mitgefühl zu entwickeln.

Die Erzählungen haben uns Kinder verbunden mit einem ganzen Strom an Kultur, sie haben uns verbunden mit dem, woran unsere Väter und Mütter geglaubt haben und wofür sie eingestanden sind. Die Märchen, Mythen und die biblischen Geschichten haben mich zu einem Europäer gemacht und zu einem Christenmenschen. Ganz einfach: Durch erzählen.

Später dann entdeckte ich, dass auch andere erzählen können. Mein Religionslehrer in der Grundschule veranschaulichte, ja: inszenierte die Geschichten von Mose und den Israeliten. So lebendig, dass mir die Bilder, die er mit seinen Worten malte, heute noch vor Augen sind. Oder die Geschichten aus dem Neuen Testament, wie Jesus den Gelähmten am Teich Betesda heilt – ich sehe das Wasser des Sees heute noch plastisch vor Augen, als sei ich dabei gewesen.

Es ist wundervoll, wenn Menschen erzählen können und wollen. Mit ihren Erzählungen lassen sie vor uns eine Welt lebendig werden, die mit anderen verbindet, die Sinn stiftet, die ein Zuhause gibt. Ein großes Ganzes, das weit über uns hinaus geht, eine Weltordnung entsteht so, die Werte kennt wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe.

Und es ist wundervoll, wenn heute noch, immer wieder, in den Kirchen solche Erzählungen zu hören sind. Packend erzählt, liebevoll erzählt, voller innerer Beteiligung.

Wir Christen, wir sind eine Erzählgemeinschaft. So entsteht Heimat für die Seele.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2319
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