Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Kostenloses Probeabo für zwei Wochen.“ Ich höre den Mann, der mir ein Zeitungsabo verkaufen will, und es gelingt mir nicht, ihm auf dem Bürgersteig auszuweichen. Der Werber geht auf mich zu und preist seine Zeitung an. Doch ich habe schlechte Laune, und er kommt mir gerade recht. Im Vorübergehen rufe ich ihm zu, dass wir dieses Blatt gerade abbestellt haben. Wegen seiner kirchenfeindlichen Artikel. „Sind Sie ein religiöser Mensch?“ ruft er mir nach. „Ja“, antworte ich. „Gott segne Sie“ sagt der Zeitungswerber mit einem Lächeln.
Der Satz geht mir nach. Da blaffe ich einen Menschen an, lasse meinen Ärger über ungewollte Werbung und eine schlechte Zeitung an ihm aus – und was kommt dabei heraus? „Gott segne Sie.“
Das war ungefähr das Letzte, was ich an einem Zeitungsstand erwartete. Mit solcher Straßenwerbung verbinde ich eher aggressive Überredung, übereilte Unterschriften und Verträge, aus denen man nur mit langen Kündigungsfristen herauskommt. Hier geht es doch nur um eines: Ums Verkaufen. Doch mit einem Satz hat der Zeitungsverkäufer meine Erfahrungen und Vorurteile in Frage gestellt. Entgegen meiner Befürchtung hat er mir nichts verkauft, sondern etwas geschenkt: Seinen Segen.
Der Liederdichter Manfred Siebald schrieb vor Jahren einen Song mit dem Titel: „Überall hat Gott seine Leute.“ In den Strophen beschreibt er ungewöhnliche und überraschende Situationen, in denen – wie er sagt – „Gottes Leute“ unvermutet in Erscheinung treten. Und das sind keine Pfarrer, Kirchenvorsteher oder Pfarrgemeinderäte, sondern ganz gewöhnliche Menschen. Und sie begegnen nicht in Klöstern, Kirchen oder Kathedralen, sondern in Alltagssituationen.
Ich fand dieses Lied zwar ganz nett, aber doch zu frömmelnd. Aber die Begegnung mit dem Zeitungswerber hat mich vorsichtiger gemacht. Denn hier habe ich eine Gelegenheit verpasst. Das nächste Mal will ich nicht vorbeirennen und mir den Segen nachrufen lassen. Sondern stehen bleiben und wenigstens sagen „Der Segen Gottes sei auch mit Ihnen.“ Vielleicht kann ich ja auch zu Gottes Leuten gehören.


https://www.kirche-im-swr.de/?m=2317
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