SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Eine kleine Erinnerung an meine Kindheit – sie bewegt mich, weil sie mir etwas über die Natur des Glaubens verrät:

In der Straße, in der ich damals – ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt – gewohnt habe, lebte ein blinder Mann. Er war Besenbinder und verkaufte seine Produkte auf dem Markt. Seine blinden Augen haben mir Angst gemacht. Ich fand ihn unheimlich. Meist trug er eine dunkle Brille – wenn er sie abnahm, sah man seine verdrehten Augen: nur das Weiße der Augäpfel – keine Pupillen. Unheimlich fand ich auch den großen Schäferhund, der ihn ständig begleitete.

Die beiden gaben ein seltsames Paar ab, wenn sie durch die Straßen spazierten. Der Hund war derjenige, der führte – der blinde Mann der Geführte. Wenn sie die Straße überqueren wollten, hielt der Hund am Übergang an, wartete auf das Ampelsignal und leitete seinen Herrn dann zur anderen Seite.

Ich fand das als Kind zwar unheimlich, aber eigentlich haben mich die beiden auch beeindruckt. Der Blindenhund ebenso wie dieser Mann. Und es fasziniert mich noch heute, was für ein Vertrauen der Blinde seinem Hund entgegenbrachte. In einer Situation, die über Leben und Tod entscheiden konnte, verließ er sich voll und ganz auf das Tier an seiner Seite.

„Blindes Vertrauen“ – das hat einen ganz und gar negativen Klang in unserer Sprache. Es gilt als minderwertig unter Augenmenschen. Wer blind vertraut, ist leicht verführbar und unkritisch. Manche sagen, man sollte es nicht einmal in der Liebe: blind vertrauen...

Natürlich gibt es auch ein „gesundes Misstrauen“. Aber das Beispiel von dem blinden Mann und seinem Hund macht mir etwas über das Vertrauen klar: Vertrauen wirkt gerade dort und vielleicht auch erst dort, wo ich mit meinem eigenen Sehen an Grenzen komme. Die Redensart „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ entpuppt sich als Selbsttäuschung, als Lebenslüge. Vertrauen hat es mit dem zu tun, was von Kontrolle und kritischer Prüfung nicht erreicht werden kann.

Vieles im Leben bleibt mir ungewiss: meine Zukunft, das Handeln und die Entscheidungen derer, mit denen ich lebe. Ohne Vertrauen wäre der morgige Tag nicht zu bestehen und manche Beziehung schwer auszuhalten. Vertrauen-Können heißt, mit den uneinsehbaren Ecken und Winkeln im eigenen Leben fertig zu werden. In religiöser Sprache hat Glauben viel von solchem Vertrauen. Kein Wunder, denn das Leben ist oft uneinsehbar.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23105
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