SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Manche Forderungen im Christentum sind schon ziemlich provozierend. Zum Beispiel wenn Jesus sagt: „Liebt eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen.“ Ganz schön starker Tobak. Wenn ich mit anderen Christen darüber rede, sind wir uns meistens einig, dass Jesus hier übertreibt und zuspitzt. Er will vermutlich provozieren.

Aber wenn ich nicht ernst nehme, was Jesus da sagt, dann bleibt vom Christentum nicht viel mehr übrig als die Forderung, dass ich meinen Nächsten lieben soll wie mich selbst. Den Feind zu lieben, ist aber doch eine ganz spezielle Forderung des Christentums. Sie klingt für mich beinahe unerreichbar. Und das wird auch dadurch nicht besser, dass Jesus es vormacht und sogar den Menschen vergibt, die ihn töten. Obwohl ich die Vorstellung beeindruckend finde, dass ein Mensch damit wirklich ernst macht. Sogar wenn es um Leben und Tod geht. Gerade weil ich am Leben so hänge und es genießen will, weiß ich ja wie schwierig das ist.

Trotzdem ich bin stolz darauf, dass meine Religion so einen einzigartig hohen Anspruch hat und Liebe über Vergeltung stellt. Wenn jemand das umsetzt, zeigt das nämlich, dass er voll und ganz überzeugt ist, dass es für Gottes Liebe keine Grenzen gibt. Nicht einmal der Hass der anderen kann Gottes Liebe dann aufhalten.

Es beeindruckt mich deshalb besonders stark, wenn Menschen diese Feindesliebe leben. Einer von ihnen ist Antoine Leiris. Er hat vor über einem Jahr bei den Anschlägen in Paris seine Frau verloren und ist jetzt mit seinem Sohn allein. Er lässt sich nicht von diesem Hass anstecken. Deshalb hat er einen Brief an die Terroristen geschrieben, wo er ihnen sagt: „Ihr bekommt meinen Hass nicht.“ Ich kann es vielleicht gar nicht ermessen, was das für diese beiden heißt: Kindergeburtstage ohne Mutter, Weihnachten ohne die Mutter, jeden Morgen ohne die Partnerin aufwachen. Und trotzdem kein Hass!

Ich weiß nicht einmal, ob Antoine Leiris ein Christ ist, aber er ist für mich ein Vorbild. Weil er zeigt, dass es möglich ist, was Jesus fordert. Selbst wenn ich damit noch am Anfang bin.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23074
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