SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Heute ist Allerseelen. In der katholischen Kirche der Gedenktag für die Verstorbenen. Der November ist überhaupt der Monat der großen Gedenktage. Reichspogromnacht, Volkstrauertag, Daten, an die wir in jedem Jahr erinnert werden. Erinnern heißt aber, nicht nur zurückschauen, heißt nicht nur Gedenkreden formulieren, - so wichtig sie sind - Sondern das heißt auch, mit dem, was uns heute klar ist, hellwach bleiben: Für den schmalen Grat, auf dem wir als Menschen balancieren.

Nichts ist nur schwarz, nichts ist nur weiß in jedem einzelnen Menschen.

Das Helle wohnt neben dem Dunklen, das Heilige neben dem Bösen. In unseren Grautönen sind wir Mensch: immer aufs Neue versucht, nie mit sich fertig, und sehr oft von sich selbst überrascht. Das zuzugeben ist schwer, das Eigene schönreden einfacher, der Angriff nach vorne liegt nahe: Man legt Schubladen schneller an, als man denkt, und wen man einmal darin untergebracht hat, der hat es schwer, da wieder rauszukommen. „Arbeitslose sind Faulenzer, Pfarrer weltfremd und irgendwie abgedreht, wenn man einem Politiker die Hand gibt,

sollte man danach die Finger nachzählen, und wenn wir nicht aufpassen,

ruft der Muezzin bald vom Kölner Dom.“ Sprüche ähnlicher Sorte gibt es genug. Sie sind weder wahr noch falsch, sondern schlicht völlig daneben.

Nicht ist nur schwarz, nichts ist nur weiß. Auch in der diskriminiertesten Randgruppe gibt es Idioten. Auch übelste Zeitgenossen bewahren menschliche Züge. Nie werde ich den versierten Einbrecherprofi vergessen, den ich in seinem Hafturlaub nach dem Tod seines Kindes besuchte, nie das Gespräch, das wir führten.  Es ist schön und schrecklich zugleich Mensch zu sein: das Dämonische wohnt neben dem Guten. Wir haben viel Freiheit, uns zu entscheiden. Wenn wir leben, was wir sind, es zumindest immer wieder versuchen, dann wird das Dunkle nicht endgültig triumphieren. Denn was wir sind, davon spricht die schönste Aussage, die für mich je über den Menschen gesagt worden ist

und die auch gleichzeitig seine größte Herausforderung ist: Der Mensch: das Ebenbild Gottes. Gott hat jeden einzelnen unserer Namen in seine Hand geschrieben. Wir sind ihm heilig. Und damit uns untereinander auch.

Mit allem Licht und allem Schatten. Das Ebenbild Gottes. Damit ist alles gesagt und alles gefordert. Für unsere Zukunft und für den morgigen Tag.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23050
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