SWR2 Wort zum Tag

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Die Kathedrale von Metz - St. Etienne auf Französisch, Stephansdom auf Deutsch, leuchtet auf ihrem Hügel über der Stadt. Besonders wenn man sie abends betrachten kann, macht sie ihrem Beinamen „die Laterne Gottes“ alle Ehre. Sowohl ein Portal als auch ein Fensterdetail stimmen jedoch bei aller Begeisterung über dieses wundervolle Gotteshaus nachdenklich. Das Fensterdetail zeigt den Propheten Daniel, in seinen Gesichtszügen hat sich Wilhelm II, der deutsche Kaiser, in der Kirche verewigen lassen. Daniel, der Prophet der Apokalyptik, passt zu den Szenen des Weltuntergangs, die sich auch dank des deutschen Kaisers im Ersten Weltkrieg ereignet haben, obwohl der Prophet sich die Schrecken von Verdun wohl kaum hätte ausmalen können.

Treffender hätte sich Wilhelm nur noch als apokalyptischer Reiter darstellen lassen. Der deutsche Kaiser war der Kathedrale sehr verbunden, dabei hat sie seinetwegen leiden müssen. Denn der Dachstuhl der Kirche geriet durch ein Feuerwerk zu Wilhelms Ehren in Brand und wurde zerstört.

Ein Portal der grandiosen Kathedrale zeigt Christus als Weltenrichter. Wie viele Menschen haben im Lauf der Jahrhunderte dieses Portal betrachtet, und wie wenige haben die Botschaft des Weltenrichters, nämlich die Liebe zu Gott und dem Nächsten, tatsächlich beherzigt? So hat die Kirche seit dem 14. Jahrhundert, in dem sie errichtet wurde, viele regionale und zwei Weltkriege gesehen.

Heute flaniert junges Volk durch die Straßen der Stadt, Metz ist Universitätsstadt und Studierende aus über 70 Nationen bevölkern Stadt und Campus. Ob die jungen Leute ab und an über die Geschichte der Stadt nachdenken? Ob die eine oder der andere die beeindruckenden Fenster des Gotteshauses betrachtet und das Bild des deutschen Kaisers entdeckt? Er ist nicht einfach zu identifizieren, denn zur Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs wurde der Schnurrbart von Wilhelm II entfernt. Ich kann nur hoffen, dass die Begegnungen der Völker an der Universität ein Beitrag zum friedlichen Dialog sind, so dass die Kathedrale keinen weiteren Krieg mehr erleben muss und sie eine Laterne in Friedenszeiten bleibt.

Das Urteil über uns Menschen wird einmal der Weltenrichter treffen, der im Gegensatz zu allen weltlichen Herren, daran glaube ich, und angesichts der Geschichte ist das für mich sehr tröstlich, der wahre Weltenherrscher ist. Wie er wohl über den deutschen Kaiser richten wird? Ich bin mir sicher, er freut sich über die jungen Menschen, die neugierig und offen aufeinander zugehen und über jeden, ob Christ oder ob Buddhist, ob Muslim oder areligiös, der das lebt, was Christus zu seinen Lebzeiten gepredigt hat: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23015
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