SWR4 Feiertagsgedanken

SWR4 Feiertagsgedanken

Heilige stehen für mehr Menschlichkeit 

Das ist schon eine Provokation: Jesus hält Arme und Trauernde für glücklich. Ebenso Menschen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. So steht es in der „Bergpredigt“ im Matthäus Evangelium. (5,1-12a) Was für ein Hohn auf die unzähligen Leidenden – könnte man meinen - wäre da nicht immer der Nachsatz mit dem Versprechen, dass alles gut und heil wird. Trauernde glücklich preisen ist dann nicht zynisch, wenn sie hoffen können, dass sie nicht ver-tröstet werden, sondern ge-tröstet. 

Dem nicht genug - Jesus sagt: „Was du einem der Geringsten auf dieser Erde Gutes getan hast, das hast du mir getan“. (Matthäus 25,31-40) Es genügt Jesus offensichtlich nicht zu sagen: Ich kümmere mich um diese Menschen. Er geht noch weiter: Ich bin der Hungernde, der Nackte, der Kranke in Person. Er identifiziert sich mit den Leidenden. Das ist unglaublich. Und Jesus sagt das nicht nur, er lebt das vor. Ihm geht es darum, alle heilsamen und heilenden Kräfte, die es gibt, zu mobilisieren – vor allem die Liebe. 

Und dann gibt es Menschen, die haben an irgendeinem Punkt in ihrem Leben etwas von dieser Botschaft begriffen. Sie haben Ernst damit gemacht und versucht, im Sinne Jesu zu leben. Jemand hat solche Menschen als „den wichtigsten Kommentar zum Evangelium“ bezeichnet (Hans Urs von Balthasar). Sie waren bisweilen - wie ihr Freund Jesus - Grenzgänger aus Liebe. 

Katholiken und Orthodoxe nennen sie Heilige. Evangelische sagen: exemplarische Christen, Vorbilder. Elisabeth von Thüringen und Franz von Assisi, Mutter Teresa und Dietrich Bonhoeffer. Heute ist ihr Gedenktag: Allerheiligen. 

Heilige sind für mich ganz normale Menschen. Wie wir müssen sie auf staubigen Straßen ihren Weg durchs Leben gehen, ohne Abkürzungen, ohne Schleichpfade. - Heilige sind auch Menschen, die sich längst nicht immer fest mit Gott verbunden fühlen. Sie haben - wie viele - ihre Glaubenszweifel. Gott scheint ihnen über längere Strecken sehr fern, weit weg zu sein. Der Bericht von Mutter Teresa über solche Erfahrungen macht mich betroffen. In einer Tagebuchnotiz hält sie fest: „Da ist nichts mehr, wohin ich mich wenden könnte: kein Gott, kein Vater, kein Hirte und kein Gegenüber; nur diese erschreckende Leere.“ (Komm, sei mein Licht, Pattloch Verlag München 2007) 

Allerheiligen ist für mich kein Fest der toten Helden, keine Leistungsschau der religiösen Elite. Heilige sind für mich Menschen, die bei Gott sind und die sich auf Erden bemüht haben, die Welt etwas menschlicher und von Leid freier zu machen. Ich glaube, solche Vorbilder brauchen wir dringend. 

Gefragt sind menschliche Heilige 

Im zweiten Teil der Feiertagsgedanken an Allerheiligen geht es darum: heilig sein heißt menschlich sein. Der Schriftsteller Mark Twain (1835-1910) soll gesagt haben: „Mich erregt nicht das, was ich in der Bibel nicht verstehe, mich beunruhigt vielmehr das, was ich verstehe, aber nicht tue.“ Ich finde diesen Spruch sympathisch und verstehe ihn auch so: Es sind nicht die asketischen Klimmzüge, nicht die religiösen Kraftakte, nicht die moralischen Höchstleistungen, die andere überzeugen. Sondern: Liebenswürdigkeit, Respekt, Toleranz – das sind die Schlüssel zu den Herzen der Menschen. 

Allerheiligen verstehe ich auch als Anfrage an die Christen, an die Kirche. Wenn die Menschen etwas von der Kirche erwarten – dann gewiss keine dogmatischen oder moralischen Anweisungen. Sie erwarten menschliche Nähe im Geiste Jesu: Verständnis für ihre Probleme und Nöte, Verständnis für ihre Sorgen und Ängste. Hilfe bei ihrer Suche nach Sinn, gerade auch in schwierigen Lebenslagen. 

Christsein so verstanden – darin ist Papst Franziskus Vorbild. Bei ihm gilt: zuerst lieben, dann lehren. Für ihn steht der konkrete Mensch und sein Schicksal stets an erster Stelle. Und eines seiner wichtigsten Anliegen ist, dass seine Kirche wieder mehr Verständnis für menschliches Scheitern zeigt. Was dieser Papst sagt und tut, was er von seiner Kirche erwartet – das lässt wieder jenen „Wärmestrom an Liebe“ ahnen, wie er von Jesus ausgeht. Und nach dem sich die Menschen bis heute sehnen. 

Abbé Pierre, vielen noch bekannt als „Vater der Obdachlosen“ in Paris (1912-2007) – er hat die kühne Behauptung aufgestellt: „Worauf es heute ankommt, ist nicht der Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sondern zwischen Menschen mit Herz und denen ohne Herz.“ 

Ich glaube, damit liegt Abbé Pierre ganz auf der Linie seines Vorbildes Jesus. Jesu Leidenschaft für Gerechtigkeit, sein Eintreten für die Armen ist kaum zu übertreffen. Das Lukas Evangelium nennt als Ziel seiner Botschaft: den Armen eine gute und befreiende Nachricht bringen, den Gefangenen ihre Entlassung garantieren, den Blinden das Augenlicht zurück geben, die Zerschlagenen in Freiheit setzen, eine Ära des Heils ausrufen (4,18-19). 

Wer bereit ist, Jesus auf diesem Weg zu folgen, der steht mit beiden Beinen auf dem Boden dieser Welt-Wirklichkeit. Denn: Jesus hat sich während seines öffentlichen Wirkens um die Lebensfragen der Menschen gekümmert. Durchgängig und im Vertrauen auf Gott. Danach macht den wahren christlichen Glauben im Sinne Jesu nicht die Rechtgläubigkeit aus, auch nicht Moral und Dazugehören. Den wahren christlichen Glauben im Sinne Jesu macht die Menschlichkeit aus – eben: „Menschen mit Herz“.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22996
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