Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Sechs Kinder hat die Patriarchin groß gezogen. Viele Enkel und Urenkel kamen im Lauf der Jahre hinzu. Der Mann starb. Die Firma ging an den ältesten Sohn. Jetzt ist die Dame alt geworden, lebt allein in dem großen Haus. Ihr einst sicherer Schritt ist unsicher geworden: sie taumelt durch die Wohnung. Wer ihr zuschaut, möchte gleich zu Hilfe springen, aber dann schaut sie entrüstet: was habt ihr denn?

Sie selbst merkt nicht, wie sie abbaut. Sie erzählt viele Geschichten nicht doppelt, sondern viele Male; manchmal hebt einer der Enkel unterm Tisch vier Finger oder die ganze Hand. Heißt: das hab ich schon fünf Mal gehört, und die Jungen lächeln dann miteinander. Ohne Häme; sie mögen die alte Dame. Eines Abends schlägt sie Alarm: kein Brot mehr im Haus. Für sie ist das eine Katastrophe – Kriegskind, hat die Hungerjahre im Krieg und später erlebt. Die Kinder versuchen alles, damit die alte Dame noch am gleichen Abend ein Brot bekommt.

Wie wird es weitergehen? Wird sie irgendwann im Rollstuhl sitzen, ans Bett gefesselt sein? Muss sie doch ins Altenheim? Keine schönen Aussichten, und so klar ist die Patriarchin schon, dass sie ahnt, was da noch alles kommen kann. Nicht mehr viel Schönes. Und nur mit sehr viel Glück bleibt sie gesund und ist eines Morgens tot. So wünscht sie sich das, so wünschen es ja viele.

Um die Angst vor der Zukunft  nicht zu groß werden zu lassen, betet sie jeden Tag.

„ Herr, hier bin ich. Gib mir nur heute die Kraft den Tag zu überstehen. Lass mich spüren, dass du mir heute beistehst. An morgen kann ich noch gar nicht denken. Amen“.

Das Gebet gefällt mir. Es ist nicht nur geeignet für alte Damen, es passt auch für mich. Gestern ist vorbei und morgen kommt erst noch: nur der heutige Tag ist wirklich in meiner Hand. Und dass Gott mir nur heute hilft, darum bitte ich auch.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22937
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