SWR2 Wort zum Tag

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Ich war im längsten Konzert der Welt. Nicht bis zum Ende, denn das ist erst für das Jahr 2640 vorgesehen. Da musste ich leider früher raus. Das Konzert läuft seit dem Jahr 2001 in Halberstadt in der Burchardi-Kirche. Es ist ein Orgelstück des Komponisten John Cage und hat den Titel „As slow as possible“, also „so langsam wie möglich“. Alle Töne und Akkorde werden dabei sehr lange ausgehalten. 

Gespielt wird das Konzert auf einer Orgel, die extra dafür konstruiert wurde. Und da das Stück für jeden Organisten eine Zumutung wäre, deshalb haben sich die Initiatoren des Werkes etwas ausgedacht. Mit Hilfe von Sandsäcken, Schnüren und Umlenkrollen werden die Tasten der Orgel bedient. 

Das Konzert ist eher wie eine kleine Ausstellung konzipiert. Man kann durch die leere Kirche flanieren. In der Mitte steht das Örgelchen und produziert gerade einen ziemlich schrägen Dauerakkord. Fast ein bisschen nervig. Ungefähr ein Mal pro Jahr findet ein so genannter „Klangwechsel“ statt. Dann wird feierlich eine Taste gedrückt und befestigt oder losgelassen, je nachdem was in den Noten steht. Zu diesen Anlässen ist die Burchardi-Kirche richtig voll. 

Interessant finde ich die Zeitleiste aus Metall, die rundum an der Kirchenwand angebracht ist. Für jedes Konzertjahr kann man dort eine Patenschaft übernehmen und ein Metalltäfelchen mit seinem Namen und Widmung anbringen lassen. Für das Jahr 2453 steht da zum Beispiel: „Zu meinem 500. Geburtstag“. Und auf dem Täfelchen für 2017 steht unter dem Namen: „Es wird einmal gewesen sein.“ 

Das ganze Stück kann ich nicht erfassen. Dazu bräuchte ich noch weit über 600 Jahre. Aber ich komme ins Grübeln über die Zeit und das Sein. Mir wird hier schön vor Augen geführt, dass ich ein kleiner Teil eines größeren Ganzen bin - genau wie die Orgeltöne oder die Zeitleiste an der Kirchenwand. Vielleicht gibt es auch in meinem Leben Ereignisse, die erst einen Sinn bekommen, wenn ich das Ganze aus einiger Entfernung betrachten könnte. 

Einer der Konzertbesucher bringt es für mich ganz gut auf den Punkt. Er sagt: „Für uns Menschen ist dieses Orgelstück etwa so, als wolle man einer Eintagsfliege die Jahreszeiten erklären. Es macht einem bewusst, dass manche Dinge größer sind als wir selbst.“ (357)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22877
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