SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Mein Klassentreffen steht bevor. Da ich die vorherigen beiden Treffen dieser Art aus Termingründen nicht habe wahrnehmen können, liegt für mich das letzte Treffen mit meinen ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern fünfzehn Jahre zurück. Das ist eine Menge Zeit. Beim letzten Treffen musste ich noch einen Babysitter für meinen Sohn organisieren, heute studiert er schon in einer anderen Stadt. Manche Klassenkameradinnen und -kameraden, die ich aus der Schulzeit noch gut mit Pickeln und den damals modischen Cordhosen in Erinnerungen habe, hüten heute nach Dienstschluss ihre Enkelkinder.

Dass das Leben der Menschen wie ein Gras ist, das des Morgens blüht und sprosst und des Abends welkt, wird einem in seiner tiefen Wahrheit wohl selten so deutlich vor Augen geführt wie bei einem Klassentreffen. Mag sein, ich komme mir jugendfrisch und gefühlt wie dreißig vor, die Begegnung mit meinen Mitschülern zeigt mir deutlich: Du bist auch nicht jünger geworden. Trotzdem freue ich mich sehr auf mein Klassentreffen. Denn so eine Zusammenkunft ist für mich ein Lehrstück nicht nur in Sachen Vergänglichkeit, sondern auch darin, mir kein festes Bild über einen Menschen zu machen.

Beim letzten Mal jedenfalls habe ich mich angeregt und intensiv mit Menschen unterhalten, mit denen ich zu Schulzeiten nicht mal drei Worte gewechselt habe - so unsympathisch waren wir uns als Abiturienten. Ich weiß noch, wie arrogant und oberflächlich ich eine stets wie aus dem Ei gepellte Blondine fand, und gerade sie war für mich vor fünfzehn Jahren eine der interessantesten Gesprächspartnerinnen.

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an, heißt es in der Bibel. Beim letzten Klassentreffen habe ich erkannt, dass sich bei einigen tatsächlich ein interessantes Herz verborgen hat, was ich als Schülerin gar nicht bemerkt habe. Und ich habe erkannt, dass sich Menschen positiv verändern können.
Manche natürlich auch in umgekehrter Richtung. Jedenfalls aus meiner Perspektive. Auch das ist für mich die Botschaft eines Klassentreffens: Meine Perspektive ist nicht allgemeingültig. Andere sehen anders. Manche tiefer. Gott allein sieht das Herz an.

Über einen Klassenkameraden habe ich mich übrigens vor fünfzehn Jahren richtig geärgert. Er musterte mich nach der Begrüßung von oben nach unten, fragte nach meinem Beruf und befand dann: „Aus dir ist ja doch was geworden.“ Etwas mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit bei der Beurteilung der anderen wäre angebracht und menschenfreundlich. „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Auch nicht von Menschen, mit denen du die Schulbank gedrückt hast.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22770
weiterlesen...