SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe keine Zeit, kein: gestern, morgen, heute, vor 2 Stunden, in 50 Jahren. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich weiß auch nicht, ob ich mir das wünschen soll. Gut, ich könnte dann zum Beispiel nicht alt werden, nicht krank, und es würde nichts Schönes vorübergehen. Leben ohne Abschied - aber auch ohne etwas Neues. Es würde sich überhaupt nichts verändern. Denn nur da gibt es Zeit, wo sich etwas verändert.
Für unser Gefühl ist die Zeit oft wie eine eigene Macht, die uns eisern im Griff hat. Sie beraubt uns, und sie beschenkt uns. Es gibt kein Entrinnen.
Nicht umsonst hat man deshalb die Zeit immer wieder als eigene Gottheit gesehen. Die Griechische Antike zum Beispiel kannte zwei Zeitgötter: Chronos, von dem wir Begriffe wie Chronik und Chronologie herleiten, und als zweiten Kairos, den Gott des Augenblicks; kahlköpfig, mit einer einzigen Locke. Bei ihm kommt es darauf an, mit Geschick und Glück die Locke zu fassen, die Gelegenheit beim Schopf zu packen, sagen wir heute noch - sonst ist der Augenblick unwiederbringlich vorbei.
Ein ganz anderes Bild von Gott und der Zeit habe ich in der Predigt einer Rabbinerin gefunden, nämlich Gott als Frau, die selbst älter wird, gebrechlich, mit faltigem Gesicht, gezeichnet vom Leben. In dieser Predigt erzählen die Menschenkinder, wie sie, selbst in die Jahre gekommen, ihre alte Mutter Gott besuchen:
„Gott nimmt unser Gesicht in ihre beiden Hände“, heißt es, „und flüstert: „Hab keine Angst“, ich will treu zu dem Versprechen stehen, das ich Dir gab, als du jung warst. Ich werde bei dir sein. Noch im hohen Alter werde ich bei dir sein und dich halten, wenn du grauhaarig bist. Ich habe dich geboren, ich trug dich, ich halte dich fest. Werde alt mit mir!“
Und gegen Ende sagen die erwachsenen Kinder: „Es war ein guter Besuch (bei unserer Mutter Gott). Ihr Gesicht, von der Zeit gezeichnet, scheint uns nun nicht mehr gebrechlich, sondern weise. Denn wir begreifen, daß Gott um die Dinge weiß, die nur die Zeit zu lehren vermag: daß es möglich ist, den Verlust einer Liebe zu überleben, sich sicher zu fühlen inmitten einer sich ständig verändernden Welt, in Würde leben zu können, auch wenn jeder Knochen schmerzt.“

<>Aus. Predigt an Kol Nidrei, Jom Kippur 1990, Beth Am, New York; zuerst veröffentlicht in: J. Cox (Hg), Beest Sermons V, SanFrancisco 1992. Aus dem Amerikanischen übertragen von Evi Krobath)https://www.kirche-im-swr.de/?m=2271
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