SWR2 Wort zum Tag

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Wie bekommt die Freiheit Beine? Wie lernt sie auf eigenen Füßen stehen, lernt laufen? Wie ein Kommentar zu diesen Fragen mutet ein Bild an, das ich in Berlin gesehen habe. »Die ersten Schritte« heißt es – und Vincent van Gogh hat es gemalt. Ein unspektakulä-res und zugleich ungemein fesselndes Bild.
Was heißt unspektakulär? Den Bildvordergrund nimmt ein kleiner Nutzgarten ein. Im Hintergrund befindet sich ein Zaun vor einem Haus. Vorne, in dem kleinen Garten, be-herrschen drei Menschen die Szenerie. Rechts hinten, vor dem Zaun, steht eine Frau. Sie beugt sich vor, hält ein kleinen Kind an den Armen fest. Das Kind, so scheint es, lernt gerade gehen. Es kann schon stehen, streckt die Arme aus, hat den einen Fuß vorgesetzt. Van Gogh zeigt uns dieses Kind so, als wollte es gerade den ersten eigenen Schritt tun. Als wollte es gerade den noch bestehenden Kontakt zur Mutter abbrechen, endlich sel-ber gehen. Das Kind geht aber nicht einfach drauflos. Es hat ein Ziel: Einen Mann, der im Bildvordergrund in die Hocke gegangen ist. Er hat gerade seine Garten arbeit unterbro-chen. Der Spaten liegt neben ihm, eine Schubkarre an seiner Seite. Jetzt zählt die Garten-arbeit nicht mehr. Der Mann ist ganz auf das Kind konzentriert, breitet die Arme aus, lädt das Kind ein.
Wie lernt die Freiheit laufen? Van Goghs »Erste Schritte« bietet eine Antwort auf diese Frage an. Es ist ein Bild, dass von der Lust an der Freiheit und der Schwierigkeit mit ihr erzählt.
Die Lust der Freiheit. Wer die ersten zaghaften Laufversuche von Kindern selbst erlebt hat, der weiß: der erste Schritt ist ein gewaltiger Schritt. Der erste Schritt zeigt nicht nur ein bestimmtes Entwicklungsstadium des Kindes an. Der erste Schritt: Das ist auch der erste Schritt in die eigene Freiheit. Jetzt löst sich das Kind von seinen Eltern, jetzt erwei-tert es seinen Radius, jetzt lernt es die Welt anders kennen. Es lernt gehen – und stolpern, lernt sich wieder aufzurappeln und immer wieder hinzufallen. Hier schlägt die Lust an der Freiheit immer wieder in die Schwierigkeiten mit ihr um. Das Kind wird freier durch die ersten eigenen Schritte und es riskiert, auf die Nase zu fallen. In den ersten Schritten des Kindes konzentriert sich so das gesamte Leben wie in einem Brennglas.
Van Gogh erzählt aber noch mehr über die Freiheit des Menschen. Auf seinem Bild wird das Kind von der Mutter gehalten, vom Vater erwartet. Auch das gehört nämlich zur Freiheit: Dass ich gehalten werde, dass mich jemand zur Freiheit, zu den ersten Schritten ins eigene Leben ermutigt – und dass ich mit offenen Armen erwartet werde, dass ich ein Ziel habe, eine Perspektive. Freiheit ist ohne dieses Gefühl von Aufgehobensein und oh-ne ein Ziel nur ein schaler Abklatsch echter Freiheit.
Am Tag der deutschen Einheit finde ich die Erinnerung an diese verschiedenen Dimen-sionen der Freiheit wichtig. Weil sie den Blick weitet. Die Wiedervereinigung war eben nicht nur mit Freiheit für die Menschen in der ehemaligen DDR verbunden. Sie stellt seit siebzehn Jahren allen Menschen in der Bundesrepublik die Frage, welche Ziele und Per-spektiven diese Freiheit hat. Wohin es mit der Freiheit geht. Welche Richtung sie ein-schlägt. Also: Woraufhin ist die Freiheit ausgerichtet? Ist diese Freiheit nur eine, in der möglichste jede und jeder tun und lassen soll, was sie oder er will? Ist diese Freiheit eine, die Menschen menschlicher macht? Lässt die Freiheit uns gerechter oder grausamer wer-den?
Ganz alte Fragen. Bereits die Menschen der Bibel rangen um die Freiheit. Sie erlebten Gott als einen, der die Freiheit des Menschen will. Als Befreier. Als jemand, der aus Sklaverei und Unterdrückung befreit. Davon erzählt etwa die Geschichte des Auszugs aus Ägypten. Und zugleich erlebten die Israeliten diesen Gott als Halt. Sicher, auch die Israeliten verirrten sich, wussten nicht, wo sie mit ihrer Freiheit hinsollten. Aber immer wieder spürten sie: Gott hält seine Hand über uns, begleitet uns, streckt uns seine offe-nen Arme entgegen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2255
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