SWR3 Gedanken

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Wenn ich anfange über die Zeit nachzudenken, dann werde ich immer ganz kirre. Mal vergeht sie rasend schnell, mal viel zu langsam.

Die alten Griechen haben das ganz anschaulich erklärt. Gleich zwei Götter waren bei ihnen für die Zeit zuständig: „Chronos“ und „Kairos“. Der Herr Chronos ist ein geduldiger, fast behäbiger Riese. Er herrscht über die messbare Zeit - Sekunden, Tage, Jahre – alles, was gleichmäßig aber auch gnadenlos dahinfließt.

Der Herr Kairos ist zuständig für Momente, wo sich Zeit aufzulösen scheint und für den richtigen Augenblick. Und genau so sieht er auch aus: ein bisschen verhuscht, mit kleinen Flügeln an den Füßen, jung und agil, immer unterwegs. Er wird mit kurz geschorenem Hinterkopf dargestellt. Es ist also schwierig, ihn beim Schopfe zu packen.

Bei mir hat eindeutig der Herr Chronos die Hosen an. Der Takt wird bei mir vorgegeben. Morgens viel zu früh durch die Kinder und tagsüber durch meinen Terminkalender. Der Chronos hat aber auch sein Gutes. Ohne ihn wäre mein Tag chaotisch und hätte keinerlei Struktur.

Aber das pralle Leben – das hat der Herr Kairos im Gepäck: eine richtige Entscheidung genau zum richtigen Zeitpunkt; ein Moment, der zur Ewigkeit wird, weil er einfach so schön oder so traurig ist. Oder weil ich das Gefühl habe, hier ist mir Gott gerade ganz nah.

Chronos und Kairos – beide sind wichtig. Aber Uhrzeit und Termine dürfen nicht das letzte Wort haben. Wenn mir ein Freund erzählt, dass gerade seine Mutter gestorben ist, dann ist jeder andere Termin zweitrangig. Wenn mein kleiner Sohn strahlend ins Büro kommt und stolz auf einem Bein hüpft, dann soll doch das Telefon so lange klingeln wie es mag. Und wenn mein Kopf vor dem PC durchdreht, dann setze ich mich auf die Bank im Garten, ziehe die Schuhe aus und denke: „Willkommen Herr Kairos in meinem Leben!“

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