Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Die Frau auf dem Bahnsteig kam anscheinend aus Osteuropa, der Kleidung und der Sprache nach. Sie hatte zwei Kinder dabei, die etwas abseits standen. In der Hand hielt sie einen Zettel, den sie anderen Wartenden zeigte. Dazu stellte sie eine Frage in unverständlicher Sprache. Doch die Angesprochenen wichen zurück, andere machten gleich einen großen Bogen um sie und die Kinder. Offensichtlich hielten sie die Frau für eine Bettlerin. Oder schlimmer: für eine Trickbetrügerin. Vielleicht würden die Kinder ja geschickt die Passanten bestehlen, während die Mutter sie ablenkte.

Ich verstehe das Verhalten der leute. Ich bin selbst schon am Bahnsteig bestohlen worden, bin seitdem auf der Hut und schaue mich durchaus um, wer in meiner Nähe ist. Und eine einfache Frage nach dem Weg oder nach Wechselgeld kann tatsächlich ein Trick, eine Ablenkung sein, um einen Diebstahl zu verdecken.

Schließlich ließ sich doch jemand von der Frau ansprechen. Und mit vielen Gesten und einigen englischen Brocken kam heraus: Die Frau wollte nur wissen, auf welchem Bahnsteig ihr Zug abfährt. Kein Trick, nur eine Frage, eine Bitte. -

Sind wir schon so weit, dass wir einer einfachen Bitte aus dem Weg gehen aus Angst, bestohlen zu werden? Hat uns die Angst vor der Alltagskriminalität so sehr im Griff? Dass wir  alles meiden, was uns fremd ist? Oder als Touristen herumlaufen wie Känguruhs, mit dem Rucksack vor dem Bauch statt auf dem Rücken?

Vernünftiges Sicherheitsbedürfnis und kluge  Maßnahmen haben da ihre Grenze, wo sie uns anderen Menschen entfremden. Ich will nicht allen misstrauen, weil mich einer beklaut. Und ich will nicht zu einem wandelnden Tresor werden, damit mich niemand beklauen kann. Vor allem aber möchte ich offen bleiben für die Fragen, Bitten und Nöte meiner Mitmenschen. Ohne Zweifel kann das missbraucht werden. Not und Hilflosigkeit können vorgetäuscht sein, meine Hilfsbereitschaft kann ausgenutzt werden. Doch schlimmer als bestohlen zu werden ist, sich vorsorglich der eigenen Menschlichkeit zu berauben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22450
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