SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Meine Schüler haben im Religionsunterricht gesagt, dass Gott doch nur eine Erfindung des Menschen ist. Demnach gibt es ihn nicht in Wirklichkeit. Ich finde es wichtig, dass ich diese kritischen Meinungen nicht übergehe oder totschweige. Deshalb habe ich ihren Gedanken erst mal übernommen und gesagt, dass sie Recht haben. Gott ist eine Erfindung der Menschen. Aber eine gute, weil diese Erfindung sich im Leben bewährt. Ähnlich wie der Entdeckung der Schwerkraftgesetze. Beide Male versuchen Menschen, etwas von der Welt zu verstehen und fassen das in menschliche Worte, Bilder oder Gesetzmäßigkeiten. Und sie gelten, weil sie sich bewähren.

Gerade wenn es um Gott geht, ist es wichtig, dass meine Schüler lernen, dass es nicht verboten ist, Kritik zu üben.  Dass ich zweifle und nachdenke und dabei alle Seiten berücksichtige ist ja auch der Weg, der zum Glauben führt. Wenn ich mir nämlich vorstelle, dass Gott eine Erfindung des Menschen ist, dann muss ich ja sagen: Er ist eine recht gute Erfindung, weil Menschen dadurch getröstet werden und Hoffnung finden.

Die Kritik führt hier zu einer neuen Einsicht. Und nicht nur in Sachen Religion oder Kirche: Wer Kritik übt, ist kein Nestbeschmutzer. Im Gegenteil: Wenn ich mich auf eine kritische Sichtweise einlasse, habe ich meistens selbst einen Gewinn davon.

Wenn mir an einer Sache oder einer Person liegt, halte ich es sogar für einen Ausdruck meiner Zuneigung, dass ich kritisiere. Nicht als Dauernörgler. Aber wenn ich die Leute, die ich mag, nur mit der rosa Brille anschaue, dann ist das vielleicht lieb gemeint, aber es hilft nicht dabei, wenn einer besser werden will. Wenn ich jemanden wirklich mag, dann ja auch mit den Seiten, die ich kritisch sehe. Das ist doch viel ehrlicher. 

Ich leite in meiner Freizeit einen Chor. Wenn ich da alles nur lobe und bei den Fehlern und Ungenauigkeiten weghöre, weil ich nett und freundlich sein will, dann werden wir bei der Aufführung nicht die Musik machen, die wir eigentlich machen könnten. Mit der Kritik in den Proben und nach der Aufführung will ich ja nichts zerstören, sondern verbessern. Und das gilt nicht nur, wo es um die Musik geht, sondern überall: Bei meinem Glauben und in der Kirche, dort wo es das Zusammenleben in unserem Land betrifft und bei der Arbeit; und erst recht in der Partnerschaft: Kritik macht mich nicht schlechter, aber sie bietet die Chance, dass etwas besser wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22432
weiterlesen...