SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Mama, hör, so ein schönes Lied!“ Vor ein paar Tagen stand unser kleiner Sohn frühmorgens an meinem Bett. Hatte ich richtig gehört und verstanden? „Mama, hör, so ein schönes Lied!“ Es war gerade mal halb fünf.

Ich höre genau hin. Hat da jemand das Radio an? Wird im Gasthaus gegenüber gefeiert? Der Kleine klettert zu mir ins Bett und sagt: „So schön!“ „Was für ein Lied meinst du denn?“, frage ich. Inzwischen bin ich wach. „Na, die Vögel“, sagt er, kuschelt sich in die Decke und schläft weiter.

Aber ich bin wach und höre hin. Und stelle fest: Er hat recht. Draußen im Haselnussbaum und in der Birke probt ein kleines Orchester. Die Vögel zwitschern und pfeifen ihr Lied in den frühen Morgen. Für unseren Sohn sind es lauter kleine gefiederte Musiker, die ein frühes Konzert geben.

Was für mich so normal ist – Vögel zwitschern nun mal – ist für unseren Sohn etwas Besonderes: ein schönes Lied. Damit ist er – ohne, dass er es weiß – in guter Gesellschaft.

Im 17. Jahrhundert hat Paul Gerhardt gedichtet:

Die Lerche schwingt sich in die Luft,
das Täublein fliegt aus seiner Kluft
und macht sich in die Wälder;
die hochbegabte Nachtigall
ergötzt und füllt mit ihrem Schall
Berg, Hügel, Tal und Felder.

Unser Sohn hört als Kind ganz anders hin als ich es tue. Er hat ein offenes Ohr, er hat sich noch nicht an Selbstverständliches gewöhnt. Für ihn ist das Zwitschern der Vögel Musik. Und Paul Gerhardt hat darin das Lob für Gott den Schöpfer gehört.

Das würde ich gern wieder lernen. Dass ich neben oder unter all den Alltagsgeräuschen wieder die wunderbaren Vogelstimmen höre oder das Summen der Bienen im Garten. Und dass ich mich an Gott erinnern lasse, der das alles geschaffen hat. Musik der Schöpfung gewissermaßen. Vieles wird im meinem Alltag übertönt: das Telefon klingelt, Autos fahren vorbei, das Radio dudelt. So manches nehme ich gar nicht mehr wahr oder nehme es einfach so hin.

Manchmal brauche ich eine kleine Erinnerung an die wunderbaren Töne, die es im meinem Leben gibt. Es muss ja nicht morgens um halb fünf sein, aber gut ist es trotzdem, denn: Mama, hör, so ein schönes Lied!

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