SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Es war ein schönes Fest bei uns in Neuendorf – einem Vorort von Koblenz.  Privatleute hatten ihre Höfe und Gärten geöffnet und die Besucher eingeladen hinter die Fassaden zu schauen, hinter die Fassaden der Häuser, Mauern und Tore. Und was die Besucher zu sehen bekamen, hat sie überrascht. Sie waren erstaunt, wie viel Schönes sich manchmal hinter Häuserzeilen verbirgt, die nach außen erstmal recht langweilig und manchmal auch ein bisschen runtergekommen aussehen. Blühende Gärten, alte Bäume, Scheunen aus Bruchstein und Schuppen aus Fachwerk. Alles mit viel Liebe gepflegt und erhalten. Das Motto des Festes hieß: Entdecke Neuendorf. 

Hinter die Fassaden schauen, etwas entdecken, das man von außen nicht gedacht hätte. Darum geht es häufig auch, wenn sich Menschen begegnen. Erstmal zeigen sie sich ihre Fassaden. Und die sollen möglichst schön sein. Man will ja was darstellen. Und der andere soll bitteschön nicht an dieser Fassade kratzen. Auf die Dauer aber werden die Fassaden langweilig und sind sie auch noch so schön. Dann kommt’s drauf an, wie weit jeder sein Tor aufmacht. Dem andern gestattet, einen Blick hinter die Fassade zu werfen. Das ist oft eine sehr sensible Phase. Und viele Begegnungen überleben diese Phase nicht. Wer da zu stürmisch vorgeht oder zu lange mauert, bei dem kann die Entdeckungsreise sehr schnell zu Ende sein.

Ich gebe zu: Je älter ich werde, umso schwerer fällt es mir, die Türen zu meinem Hof aufzumachen. Oder dem andern zu signalisieren: Ich möchte gerne hinter deine Fassade schauen. Und doch mache ich auch im Alter immer wieder die Erfahrung, dass es sich lohnt. Oft haben gerade die, die nach außen ganz unscheinbar wirken hinter ihrer Fassade einen wunderschönen Garten. Und mir geht es dann wie den Besuchern von unserm Dorffest – ich staune und bin überrascht. Und was Schöneres kann es im Leben gar nicht geben.

 
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