SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Die Ohren kann man nicht verschließen. Die Augen kann man zumachen oder den Mund. Ohren sind immer offen.
Aber ich kann meine Ohren trainieren, dass sie achtsam werden. Dann nehme ich nicht nur die lauten Geräusche und die aufdringlichen Töne wahr. Dabei kann ich die Erfahrung machen: Gerade die leisen Töne tun einem gut.
Vor ein paar Tagen habe ich erlebt, wie das ist:

Ich war Laufen. Der Weg führte durch den Wald. Alles war wunderbar grün. Auf dem Waldboden haben kleine gelbe und weiße Blumen geblüht. Die Vögel haben gesungen. Es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Aber auch an einem solchen Tag durchdringt der Lärm der Autobahn den Wald.  

Und dann auf einmal hatte ich das Gefühl, als würde einer am Knopf drehen und die Vogelstimmen aufdrehen. So laut, so lebendig. Fast aufgeregt haben sie gesungen und gezwitschert. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, als ob einer die Autobahn leise und die Vogelstimmen laut gestellt hätte.

Ich konnte nicht anders als anhalten und lauschen. Einfach dastehen und mir dieses Konzert gefallen lassen. Die Autobahn war vergessen. Nur die Vögel waren da.

Nach zwei Minuten war alles vorbei. Da hat sich wieder die gewohnte Mischung eingestellt, die ich von diesem Waldweg kenne. Der Lärm der Autobahn und auf diesem Hintergrund die Vögel. Da habe ich mich gefragt: Was höre ich? Wofür habe ich Augen und Ohren?

Die Autobahn war ja nicht für einen Augenblick gesperrt und die Laster sind auch nicht ohne Motor gerollt. Aber die Vogelstimmen waren eben auch da. Für einen Moment war ich ganz Ohr für sie. Ihr Singen hat den Lärm der Straße und den Lärm der Sorgen und inneren Debatten übertönt. Die Vogelstimmen waren für mich in diesem Augenblick im Vordergrund.

In diesem Augenblick habe ich mich gefühlt, als ob mir jemand ein tröstliches Lied singt, das sagt: Noch gibt es Vögel, der Wald ist grün und das Moos auf den Stämmen leuchtet wie grünes Glas. Da habe ich mich gefreut, ein Teil dieser Schöpfung zu sein. Und ich habe gespürt: Es ist wichtig, auch auf die leisen Töne zu hören. Auf die besonders.

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