SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Das Thema „Flüchtlinge“ fällt mir dauernd vor die Füße. Vielleicht geht Ihnen das auch so. Die Menschen sind ja da. Ich möchte Ihnen heute Morgen erzählen, was ich beobachtet habe. Obwohl: Eigentlich habe ich selber mit den Flüchtlingen kaum etwas zu tun. Und Sie denken jetzt vielleicht: Bloß nicht auch noch hier, in den Sonntagsgedanken, das Thema Flüchtlinge. Da ist man doch irgendwie hilflos. Und es macht einem auch ein bisschen Angst.

Aber vielleicht hören Sie doch erst einmal zu, was ich beobachtet habe. Bei meinem Bruder. Dem ging es einige Zeit nicht so gut. Irgendwie hat er auch nach einer neuen Aufgabe gesucht. Und dann sah er diese Anzeige. Soll er eine Auszeit wagen – geht das überhaupt, in seinem Beruf? Soll er sich als Mitarbeiter in der Aufnahmestelle für Flüchtende melden? Mit seiner großen Erfahrung im Umgang mit Menschen war er dafür sicher gut geeignet. Aber die Sprachbarrieren, die vielen traumatisierten Menschen? Kann man da überhaupt etwas bewegen?

Mein Bruder hat es probiert. Und jetzt merkt er: Ja, es ist eine harte und herausfordernde Arbeit. Mir hat er erzählt: „Es gibt hier alles an Menschlichem, was Du dir vorstellen kannst. Da kommt man an seine Grenzen.“ Aber es sind Menschen, für die es sich lohnt, sich einzusetzen, sagt er. Es gibt auch viel Freundlichkeit und Dankbarkeit. Und mir fällt an meinem Bruder auf: Dieser Einsatz tut ihm gut. Er lebt richtig auf in dieser Aufgabe. Mit Hingabe ist er dabei. Weil es Sinn macht. Weil er helfen kann, dass  Menschen Zukunft und Hoffnung finden.

Und dann erzählt mir eine meiner Mitarbeiterinnen, sie habe eine unbegleitete Jugendliche bei sich zuhause aufgenommen. Und sie lächelt dabei. Sie ist erfahren mit jungen Menschen, hat selbst vier Kinder, die jetzt erwachsen sind. Aber ein fremdes Mädchen bei sich in den eigenen vier Wänden aufzunehmen, das finde ich schon sehr mutig. Und sicher auch anstrengend. Wie viele Jugendliche in dem Alter muss die junge Frau an Termine erinnert werden. Manchmal muss man mit ihr für die Prüfung lernen, die jetzt in der Schule bevorsteht. Aber meine Mitarbeiterin sagt: Das hält das Gehirn beweglich! Und Samia hilft mir auch. Sie gießt liebevoll die Blumen auf meinem Balkon und seit sie da ist, muss ich kaum mehr die Spülmaschine ausräumen. Die Mitarbeiterin lächelt, wenn sie davon erzählt.

Ich finde: Es ist doch genau das, was Jesus wollte, als er gesagt hat: Ihr habt mir zu trinken gegeben oder etwas zum Anziehen. Ihr habt mich besucht, ihr habt mich getröstet. Denn was ihr einem meiner Brüder oder Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan. Darauf liegt Gottes Segen. Ich meine, genau das geschieht, wo Menschen nicht nur über Nächstenliebe reden, sondern sie leben.

 

Auch meine Tochter erlebt das gerade. Nicht weit von unserem Haus sind junge Männer und Frauen aus Syrien und dem Irak untergebracht worden. Eine in der Flüchtlingsarbeit stark engagierte Ärztin hat meine Tochter angesprochen, ob sie sie nicht bei ihren Besuchen begleiten könnte. Meine Tochter spricht etwas Arabisch, hat sogar einige Zeit in Ägypten gelebt.

Und jetzt erzählt sie uns von den Begegnungen und was diese jungen Menschen in den Wohnungen umtreibt. Viele sind erst knapp unter oder knapp über 20 Jahre alt. Und trotzdem haben sie bereits viel Furchtbares erlebt. Wie der Mann im biblischen Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ sind sie unter die Räuber gefallen. Den Kriegswirren und dem unbarmherzigen Morden nur knapp entkommen. Einige tragen deutlich sichtbare Spuren von Folterungen, andere zeigen mit ihrem verstörten Verhalten, dass sie Furchtbares erlebt haben. Und jetzt haben sie Angst um ihre Familien und gleichzeitig sehnen sie sich nach ihren Angehörigen.

Es tut ihnen gut, wenn Menschen sich Zeit für sie nehmen. Und wenn dann noch jemand ihre Sprache spricht, dann geht ihnen das Herz auf, sagt meine Tochter. Vor allem die Frauen unter den Flüchtenden schätzen das sehr. Und ich sehe in Ihren Augen, wie gut auch ihr diese Begegnungen tun. Sie freut sich, dass sie in der Praxis sinnvoll einsetzen kann, was sie gelernt hat.

Was sie erlebt, erinnert mich ein bisschen an eine Geschichte, die Jesus erzählt hat. Die Leute haben ihn sehr theoretisch gefragt, wer denn für sie der Nächste sei. Da hat ihnen Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt und deutlich gemacht. Es geht nicht um Theorie, sondern um den Menschen, der mir gewissermaßen vor die Füße fällt, der gerade jetzt Hilfe nötig hat. Da kann der Fremde zum Nächsten werden, da sehen wir vielleicht aber auch unseren Nachbarn oder eine Arbeitskollegin ganz neu.

Und eines stellt Jesus nicht nur in dieser Geschichte klar. Was man in Gottes Namen wagt, da hilft er und legt noch etwas drauf. Seinen besonderen Segen. Ein bisschen von diesem Segen kann man dann sogar spüren und sehen. Das zufriedene Strahlen in den Gesichtern. Meine Mitarbeiterin erzählt: Samia bemüht sich sehr, mir zu helfen. Sie ist lustig. Mit ihr schaue ich zum ersten Mal seit Jahren wieder mit Spaß Fußball. Sie freut sich so, wenn „wir“ gewinnen. Und es ermutigt mich, mit wieviel Elan sie ihre Zukunft angeht.

In diesem Sinne wünsche ich auch Ihnen erfreuliche Begegnungen und einen gesegneten Sonntag.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22306
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