SWR2 Wort zum Tag

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Vor kurzem habe ich ein Konzert als geistliche Erfahrung erlebt. Ich habe dabei etwas von meinem Leben begriffen und davon, wie ich glaube.

Und das ausgerechnet bei Tschaikowsky, der mir sonst immer zu schwülstig und zu schwermütig war. Ich habe seine sechste Sinfonie gehört. Tschaikowsky hat gesagt, dass das Werk ein Programm hat. Vielleicht, weil er darin verarbeitet, was in seinem Leben so passiert ist.

Wenn ich Tschaikowsky bisher nicht so mochte, dann vermutlich, weil ich geahnt habe, dass hinter seiner Musik ein Ringen und eine Suche steckt, sein Leben zu bewältigen. Das war mir schlichtweg zu anstrengend und zu viel. Man hört der Musik regelrecht an, wie Tschaikowsky Zeit seines Lebens mit seinen Leidenschaften gekämpft hat. Er war oft unglücklich verliebt, meist in Männer. Seine Ehe war ein Desaster. Glück hat er wahrscheinlich nur in ein paar Freundschaften erlebt.  Vielleicht am meisten, wenn er sich in seine Musik zurückziehen konnte.

All das macht er in der Sechsten Sinfonie zum Programm. Er bringt zum Klingen wie es ist, wenn man verliebt ist: wie glücklich man da ist, wie die Sehnsucht an einem nagt, die sich bei ihm oft nicht erfüllt hat. Diese Enttäuschungen sind wie kleine Tode, sie stellen das Leben in Frage. Deshalb wirkt die Musik so schwermütig und gleichzeitig so exzessiv.

Da im Konzert habe ich mit dieser Musik über mein Leben nachdenken können. Zum Beispiel meine Zweifel und Fragen in der Mitte des Lebens, mit der ich mich gerade viel beschäftige. Ich habe viele Ziele erreicht, die ich mir vorgenommen habe. Vor allem beruflich. Das macht gelassen, aber es ist auch seltsam, wenn ich nach vorne schaue und noch nicht weiß, ob es jetzt eher abwärts geht. Kräftemäßig oder weil ich durch Routine das Schöne in meiner Arbeit nicht mehr so intensiv erlebe. Oder dass ich nicht weiß, ob und welche Enttäuschungen noch auf mich zukommen. Oder welche Herausforderungen. Egal ob gut oder schlecht: Diese neuen Erfahrungen sind vielleicht nicht so intensiv wie früher, ich gehe aber gelassener mit ihnen um. Wie in der Sinfonie, wenn im letzten Satz die Reprise kommt: als etwas, was ich so ähnlich schon kenne und wohlwollend aufnehme, weil es nicht mehr so intensiv ist wie beim ersten Mal.

Wenn ich diese Musik höre, ist es so, als ob ich mein Leben aus der Warte eines anderen betrachte. Wie in einem Spiegel, in dem ich es als Ganzes sehe, gelassen und liebevoll. Das ist für mich zunächst mal eine geistige Erfahrung. Geistlich wird sie für mich noch, wenn ich in dieser Gelassenheit und in diesem Wohlwollen ahne, wie Gott mein Leben ansieht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22269
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