SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Es ist gut, wenn man die Welt nicht nur durch die eigene Brille sieht. Wenn man sich die Perspektive eines anderen borgt, verändert das.

Ich habe mit Heinrich Heine auf Martin Luther geschaut. Und mein Bild wurde dadurch heller. Es war in letzter Zeit nämlich recht dunkel geworden. Ich habe immer häufiger Luthers Schatten gesehen. Vor allem sein erbarmungsloses Wüten gegen die Juden.

Dann habe ich Heine gelesen und mich gewundert. Heine war selbst Jude und hat unter seiner protestantisch- deutschen Obrigkeit zu leiden gehabt. So sehr, dass er nach Paris ins Exil musste. Dort hat er eine ‚Geschichte der deutschen Religion und Philosophie‘ geschrieben und dieses Lob:

„Ruhm dem Luther! Von dessen Wohltat wir noch heute leben.   Seine ..Fehler haben uns mehr genutzt als die Tugenden von tausend anderen. Die Feinheit des Erasmus und die Milde des Melanchthon hätten uns nimmer so weit gebracht wie manchmal die göttliche Brutalität des Bruder Martin.“
Heine hat also gewusst um Luthers Ausfälle. Und trotzdem rühmt er ihn. Wie das?

Meine Sicht auf Luther ist geprägt durch die Gräuel des 20. Jahrhunderts. Den Holocaust. Und mancher macht Luther heute dafür direkt mitschuldig.

Aber es ist nicht ‚historisch‘ geurteilt, wenn ich einen Menschen der Vergangenheit mit dem Wissen und nach den Maßstäben von heute beurteile. Wenn ich ihm zuschreibe, was andere mit ihm gemacht haben. Luthers Ausfälle bleiben auch - historisch geurteilt- „brutal“. Aber es ist angeraten, unsere Perspektive zu erweitern.

Heine sieht Luther anders.
Für ihn beginnt mit Luther ein neues Zeitalter in Deutschland. Er schreibt:

„Indem Luther den Satz aussprach, daß man seine Lehre nur durch die Bibel selber, oder durch vernünftige Gründe, widerlegen müsse, war der menschlichen Vernunft das Recht eingeräumt, die Bibel zu erklären und sie, die Vernunft, war als oberste Richterin in allen religiösen Streitfragen anerkannt. Dadurch entstand in Deutschland die so genannte Geistesfreiheit, oder, wie man sie ebenfalls nennt, die Denkfreiheit.“( S. 37) Soweit Heine.

Was er mir damit zu denken gibt? Freiheit des Denkens entsteht nicht, wenn ich meine Sichtweise absolut setze. Freiheit im Denken entsteht vielmehr, wenn ich meine Sichtweise relativieren lasse durch die anderer. Dabei sehe ich, dass die meisten Menschen nicht nur schwarz oder weiß sind, sondern beides. „Menschen sind Sünder und gerecht in einem.“ So hat Luther das als Theologe benannt. Dem entkommen auch wir nicht. Gerade wenn man sich seiner selbst moralisch sicher scheint. Dafür bin ich Heine und Luther dankbar.

Heinrich Heine; Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland; Hrsg. Von Jürgen Ferner Stuttgart 1997

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22218
weiterlesen...