SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Staunen und erschrecken: Das sind zwei sehr starke Gefühle. Wenn ich über etwas staune, dann bewegt mich das und kann mir neu die Augen öffnen für die Welt. Wenn ich vor etwas erschrecke, dann kann mich das erschüttern. Staunen und Erschrecken sind auch für das religiöse Erleben fundamental.

Auch wenn ich meinen Glauben eher nicht so emotional lebe, mehr über den Kopf. Dennoch können Staunen und Erschrecken in mir aufbrechen und zeigen mir: Religion ist im Kern keine coole Angelegenheit.

Wie fundamental Gefühle sind, daran hat mich auch Navid Kermani, der muslimische Autor, wieder erinnert mit seinem Buch „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“. Ich hatte es immer nur oberflächlich angeblättert. Jetzt habe ich mir endlich Zeit genommen und sofort waren sie da: Staunen und Erschrecken. Starke Gefühle: Gleichermaßen menschlich und religiös.

Kermani führt in seinem Buch immer zweierlei zusammen. Ein wichtiges Kunstwerk aus der christlich geprägten Kunst und die entsprechende biblische Story. Und er ist überaus neugierig auf beide. Er schaut genau hin und liest genau. Mit allzu vertrautem Verstehen ist er nicht zufrieden. Nicht beim Blick auf die Kunst und beim Lesen der Bibel auch nicht. Man kann sich für beides eine Scheibe bei ihm Abschneiden.

Beispiel: Ein Gemälde von Caravaggio zeigt die Kriegsknechte, die Jesus gefangen genommen haben, wie sie Jesus die Dornenkrone in den Kopf treiben. Und parallel dazu liest er die Passionsgeschichte der Bibel. Es ist unmöglich, nicht zu erschrecken vor diesen Männern: Kermani beschreibt sie in ihrer abgründigen Unmenschlichkeit: „Die Dornenkrone,… Pilatus hat sie nicht angeordnet. ..Sie ist ihr eigener Einfall, bloßer Zeitvertreib.“ So treiben sie ihm die in die Schädeldecke ein. Dabei: „Jesus ist ihnen so fremd, so gleichgültig wie ein Gegenstand, den sie auf der Straße auflesen.“ Je mehr ich mir diese Kerle vorstelle, umso mehr erschrecke ich. Abscheulich wie Menschen sein können. Und manchmal bleibt nur Scham angesichts dieser Gattung, zu der ich und Sie auch gehören. Und die Kriegsknechte von damals mischen sich mit Bildern von heute: Ein Mensch geht in einen Nachtclub und erschießt einfach wahllos 50 Menschen. Oder diese Fußballhooligans in Frankreich, die auf andere Menschen wahllos einprügeln. Voll kalter Verachtung.

Aber Kermani versetzt diese Szene auch in Staunen: Jesus tut es. „Vater, vergib Ihnen“, hat Jesus gesagt. Und Kermani ist sich sicher. Diese Bitte kann nur diesen Kriegsknechten gegolten haben. Denn nur sie wissen nicht, was sie tun. Solchen Männern vergeben? Jesu Glaube geht wirklich so weit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22216
weiterlesen...