Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Ich war entschlossen, mich voll und ganz in die Musik zu stürzen, weil ich fand, das wäre eine verdammt gute Möglichkeit, meinen Schulkameraden aus dem Weg zu gehen, mit denen ich nicht zu Rande kam.“ Dieser Satz stammt von Glenn Gould, der begnadete Pianist ist heute vor 75 Jahren in Toronto / Kanada geboren. Ein menschenscheuer Exzentriker war er. Er verschloss sich vor den Menschen und blieb den Menschen verschlossen. Im Alter von 50 Jahren ist er an Erschöpfung gestorben.
Nun, nicht jeder der sich ganz und gar einer Sache verschreibt, der seiner Leidenschaft frönt oder sich wie wild in die Arbeit stürzt, wird ein menschenscheuer Exzentriker und stirbt früh an Erschöpfung, aber die Gefahr besteht. Erst recht, wenn man sich gerade deshalb in einer Sache stark engagiert, um den Kontakten und der Auseinandersetzung mit den Mitmenschen aus dem Weg zu gehen. Es ist ja eine so legitime Entschuldigung, dass man wegen einer dringenden Arbeit keine Zeit hat, sich mit dem andern auseinanderzusetzen oder einfach nur Kontakte zu pflegen. Gerade wir Männer schützen uns so gerne vor zwischenmenschlichen Kontakten oder gar notwendigen Aussprachen. Oft merkt man erst zu spät, dass man dadurch – wie es so schön heißt – zum Beziehungskrüppel wird. Wer, weil er so viel arbeiten muss, nie mit seinen Kindern spielt, so lange sie klein sind, wird, wenn die Kinder groß sind, feststellen, dass er was verpasst hat. Nur wenn er Glück hat, kann er bei den Enkeln die Erfahrung nachholen. Wer die Pflege von Beziehungen immer nur seiner Frau überlässt, wird unter Umständen schlagartig einsam und allein sein, wenn die Frau stirbt oder ihn verlässt. Selbst wenn die Flucht vor den Klassenkameraden Glenn Gould dazu brachte, einer der berühmtesten Pianisten des 20. Jahrhunderts zu werden, so scheint mir der Preis dafür zu hoch. Denn kein noch so großer Erfolg kann die Nähe eines Menschen ersetzen.
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