Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Mein linker, linker Platz ist frei, ich wünsche mir den sowieso herbei.“ Ein Kinderspiel. Da sitzen Kinder im Kreis. Ein leerer Stuhl wird dazugestellt. Das Kind rechts davon schlägt mit der Hand auf die leere Sitzfläche und ruft: „Mein linker, linker Platz ist frei, ich wünsche mir den sowieso herbei.“ Der kommt dann. Und jetzt wird der Stuhl, den er verlassen hat wieder neu besetzt. Und so weiter.

Ich bin oft mit der Bahn unterwegs. Da geht das Spiel meist anders. Überall, wo der linke oder rechte Platz frei ist, türmen sich Koffer, Taschen, Rucksäcke. Nach dem Motto: Ich wünsche mir keinen herbei.

Letztes Mal war wieder alles belegt und ich musste einen Mann ansprechen – und der räumte dann deutlich widerwillig seinen Laptop zur Seite.

Das Gefühl, das ich dabei habe: Ich bin nicht willkommen. Eigentlich will da jemand in Ruhe gelassen werden, möglichst viel Abstand zwischen sich und die anderen Reisenden bringen. Ich gebe zu: Ich mache das auch. Ich fahre viel mit der Bahn und als erster parke ich meinen Rucksack auf dem freien Sitz neben mir. Auch ich mag das gerne, wenn ich für mich sitzen kann, wenn ich meine Ruhe habe.

Aber das Kinderspiel mit dem freien linken Platz zeigt auch: Es kann aufregend, lustig, interessant werden, wenn sich jemand neben mich setzt. Plötzlich habe ich da einen Menschen an meiner Seite. Mit einer Geschichte. So wie die Frau neben mir vor ein paar Tagen. Die guckt mich plötzlich an und sagt: „Der Zug fährt ja in die falsche Richtung!“ Und da hab ich gesagt: „Oder Sie!“ Sie musste lachen. Zum Glück hat sich herausgestellt, dass es schon der richtige Zug war. Nur fährt der im Moment wegen Bauarbeiten eine etwas andere Strecke. Wir kamen ins Gespräch – und an unser Ziel. Eine schöne Begegnung.

Das macht mir Mut, bei der nächsten Zugfahrt doch den Platz neben mir freizulassen. Im Stillen sage ich mir dann: „Mein linker, linker Platz ist frei.“ Und ich bin gespannt, welche Erfahrung ich mache mit meinen unbekannten Nachbarn. Wir können schweigen, aber im besten Fall lerne ich einen Menschen kennen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22025
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