SWR2 Wort zum Tag

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„Aufhören, aufhören!“ – Kinderfäuste trommeln empört gegen die Fensterscheibe. Draußen fällen Arbeiter gerade den stattlichen Baum, der nahe vor dem Fenster der Gymnastikhalle der Grundschule steht. An Religionsunterricht ist heute nicht zu denken.

Die Reaktion der Kinder hat mich nachdenklich gemacht. Mir sind die Sätze des Theologen und Mediziners Albert Schweitzer durch den Kopf gegangen. Seine einschneidende Erkenntnis: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.

Die Kinder haben ganz emotional reagiert, als der Baum gefällt wurde. Erst waren sie wütend. Mit jedem der großen Äste, die gefallen sind, sind sie stiller geworden. Als schließlich der Stamm abgesägt wurde, sind wir ins Klassenzimmer zurückgegangen. Ein Mädchen hat geweint.

Mir ist natürlich klar: Manchmal müssen Bäume gefällt werden. Die Stadt hatte sicher gute Gründe für ihre Entscheidung. Überhaupt kann niemand leben, ohne anderes Leben zu beschädigen. Und auch Kinder gehen nicht mit jeder Pflanze und jedem Insekt besonders feinfühlig um.

Trotzdem haben mich die Emotionen der Kinder beschäftigt. Für Albert Schweitzer war die Ehrfurcht vor allem Leben die Grundlage jeder Ethik. Ethisch könne der Mensch nur handeln, schreibt er „wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist“: „Die Ethik“, so Schweitzer, „ist nur vollständig und echt und lebendig, wenn sie alle lebenden Wesen mit einschließt.“

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Bei Kindern, so mein Eindruck, ist dieses Bewusstsein noch da. Sie müssen keine ethischen Abhandlungen lesen, um Ehrfurcht vor dem Leben eines Baumes zu haben.

Eine Woche später haben mir die Kinder noch mal den Baumstumpf gezeigt. „Vielleicht können wir hier mal Picknick machen“, haben sie gemeint. Noch einige Wochen später fängt mich ein Junge an der Klassenzimmertür ab, eine steile Zornfalte zwischen den Augen. „Jetzt haben sie auch noch den Baumstumpf kaputt gemacht“, erzählt er empört. „Damit ja nichts mehr wächst.“ Und dann überreicht er mir feierlich ein kleines Stück Holz. „Da, das habe ich noch gefunden. Zur Erinnerung!“.

Das Holzstück liegt jetzt auf meinem Schreibtisch. Es erinnert mich an die Sätze von Schweitzer über die Ehrfurcht vor dem Leben. Und ich glaube: Wenn auch wir Erwachsenen, so wie die Kinder, mehr davon spüren würden, dann würden wir achtsamer mit der Natur umgehen.

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