SWR2 Wort zum Tag

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„Du sollst das Kind ehren“. Das ist einer der Leitsätze der berühmten Kindheitsforscherin Alice Miller. Doch sie war nicht die ideale Erzieherin des Kindes, die sie sein wollte. Sie ist mit ihrer bahnbrechenden Theorie in der Praxis ihres eigenen Familienlebens gescheitert. Davon berichtet ihr Sohn Martin im Rückblick auf das Leben seiner Mutter.

Martins Millers Mutter, die Psychoanalytikerin Alice Miller, hatte in den 80er Jahren mit ihren Schriften über die Erziehung von Kindern entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung neuer pädagogischer Ansätze. Bis dahin war die sogenannte schwarze Pädagogik gang und gäbe. Die setzte auf die Macht von Eltern und missachtete die kindliche Individualität. Dagegen stellte Alice Miller das Kind als freies und eigenständiges Wesen heraus. Sie hat damit ein Konzept formuliert, das sie in der eigenen Familie nicht verwirklichen konnte.

Alice Miller hatte eine Last zu tragen, die sie nicht nur in der Öffentlichkeit sondern auch im Familien- und Bekanntenkreis weitgehend verborgen hielt: Sie war als Kind einer jüdischen Familie in Polen groß geworden, die Großeltern orthodox, die Eltern, Tanten und Onkel waren religiös, bürgerlich assimiliert oder zionistisch geprägt. Sie überlebte die Verfolgung durch die Nazis, weil sie sich eine neue Identität verschaffen konnte, als Polin und Nicht-Jüdin und dabei auch ihren Namen wechselte. Diese neue Identität behielt sie. Sie behielt aber auch die große Angst, das Misstrauen und die Gewalterfahrungen, die sie erlitten hatte.

Wie sich das auf sein Leben auswirkte, entdeckte der Sohn erst nach dem Tod seiner Mutter: Die Eltern gaben ihn als Kleinkind eine Zeitlang in Pflege. Der autoritäre Vater verteilte Ohrfeigen, die Mutter schwieg dazu. Sie bestimmte und kontrollierte ihn. Er stieß auf eine Mauer des Schweigens.

Martin Miller sagt von seiner schmerzlichen Entdeckungsreise, sie habe auch Kräfte in ihm frei gesetzt: Die Kraft, das eigene Leben in neuem Licht zu sehen. Die Kraft, sich selbst anzunehmen. Die Kraft, einen Schritt zurückzutreten und das Leben der Mutter anzuschauen als ein ebenfalls verletztes und verunsichertes Leben.
Als Miller von einer Zuhörerin gefragt wurde, ob ihm dieses Wissen helfe, zu vergeben und sich zu versöhnen, sagte er: „Darum geht es nicht. Verstehen kann einfach auch heißen, wieder für das eigene Leben handlungsfähig zu werden.“
Ich finde, das ist eine ehrliche Antwort. Und ein Anfang, aus dem mehr werden kann.

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