SWR2 Wort zum Tag

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Über ein Jahr lang haben zwei Autorinnen Menschen mit Demenz besucht und Gespräche mit ihnen geführt und aufgezeichnet. Die katholische Veronika-Stiftung Rottenburg hat diese Gespräche jetzt in einem Buch herausgebracht. „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort“, heißt der Titel.[1] Hier wird nicht über Menschen mit Demenz geschrieben, sondern sie kommen selbst zu Wort. Das ist gut.  Für mich ist das eine hohe Wertschätzung dieser Menschen. In der Öffentlichkeit sieht und hört man sie ja sonst meistens nicht. In diesem Buch bekommen sie ihre eigene Stimme. 

Dabei haben sie mir viel zu sagen. Manches, was ich hier lese, ist regelrecht hellsichtig. Und manches ist sehr verschlüsselt, etwas ver-rückt im Vergleich zu unserem gewohnten Sprechen und Denken. Aber wer sagt mir denn, dass das, was ich für normal halte, die einzig mögliche Art zu denken und zu reden ist? Die einzig denkbare Weise, das Leben und die Welt wahrzunehmen?

Bei dem, was ich von den Demenzkranken lese, lerne ich auch etwas über mich selbst.  Sie und ihre Lebensgeschichten stellen Fragen an mich und meine Selbstsicherheit. Es wundert mich nicht, dass eine der Autorinnen sagt, sie habe zunächst Angst vor diesen Begegnungen gehabt. Ich wäre auch erst einmal unsicher, wie ich mich Menschen gegenüber verhalten soll, die sich in eine andere Welt zurückgezogen haben. Aber ich werde auch mit der Zerbrechlichkeit meines eigenen Lebens konfrontiert. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist, wenn auch ich mir vielleicht einmal verlorengehe; wenn ich nicht mehr Herr meines Lebens und meiner Gedanken bin; wenn ich hilflos und abhängig werde. Manche der Gesprächspartnerinnen und –partner, die in dem Buch zu Wort kommen, nehmen ihren Verfall wahr und leiden sichtbar darunter. 

Natürlich möchte ich gerne mein Leben lang über meine geistigen Kräfte verfügen. Aber das liegt nicht in meiner Hand. Und kann ich denn nur ein selbstbestimmtes, präsentes, aktives Leben für ein sinnvolles Leben halten? Welches Menschenbild leitet mich? 

Das Leben hat viele Gesichter. Die Menschenwürde auch. Die Gespräche, die ich in diesem Buch zu lesen bekomme, lassen mich neu darüber nachdenken, worin die Würde eines Menschen besteht. Und was ein Leben sinnvoll sein lässt. Ich spüre dabei auch Dankbarkeit für das Leben, das ich jetzt leben kann, für die Gedanken, die ich jetzt denken kann, für die Worte, die ich jetzt sprechen kann.


 

[1] Kathrin Feldhaus/Margarethe Mehring-Fuchs, Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen, hsrg. v. d. Veronika-Stiftung Rottenburg, Ostfildern 2016.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21825
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