SWR2 Wort zum Tag

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Frau Böhm ist eigensinnig – und mir gerade deshalb  sehr sympathisch. Sie ist 93 Jahre alt und lebt in einem Heim für Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Ich habe ein Interview mit ihr gelesen in dem Buch: „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort.“[1] Darin sind Gespräche festgehalten, die zwei Autorinnen ein Jahr lang mit Menschen geführt haben, die sich in eine andere Welt des Bewusstseins zurückgezogen haben. 

„Wie geht es Ihnen?“, so beginnt das Gespräch. „Durchwachsen“, sagt Frau Böhm. „Das Leben ist ein auf und ab. Man muss halt versuchen, dass man die guten Zeiten  ein bissle halten kann. Und über das Schlechte muss man halt drübersehen und das so nehmen, wie es ist.“ 

Das Schlechte – das ist für Frau Böhm die Kriegszeit, in der ihr Sohn auf die Welt gekommen  ist. „Aber man hat sie durchgestanden“, sagt sie. Die gute Zeit: das waren ihre langen Jahre als Angestellte bei der Stadt. Obwohl es anstrengend war: schon früh morgens den Mann mit Frühstück versorgen, damit er rechtzeitig zur Arbeit kommt; dann selbst pünktlich im Büro erscheinen. Aber es war eine schöne Zeit. „Hab schreiben müssen“, sagt sie. „Ich hab in der Hauptsache Standesamt gemacht, das ist mir auch gelegen.“ 

Ihre Gesprächspartnerin versucht, diese gute Seite der Lebenserfahrung bei Frau Böhm in Erinnerung zu rufen. Steno. Darin sei sie doch so gut gewesen. Ob sie es nicht noch einmal versuchen wolle. Ihren eigenen Namen, irgendetwas.  Die alte Dame wehrt sich, sie weiß, dass sie es nicht mehr kann. Das gehe nicht einfach so, sagt sie, man brauche einen konkreten Auftrag und einen inhaltlichen  Zusammenhang. Den hat sie nicht mehr. 

Als die Interviewerin ein wenig insistiert, sagt sie: „Warum soll ich die kurze Zeit, die ich noch hab, mich mit so einem Kruschd abgeben?“ Kruschd – das ist schwäbisch und heißt: unnützes Zeug. 

Ich finde diese Antwort ganz stark. Diese hoch betagte und an Demenz erkrankte Frau hat ihren eigenen Kopf und setzt ihn auch durch. Sie begründet klar und eindeutig, was sie nicht will und auch, was sie will, was ihr wichtig ist und was nicht. Gott sei Dank tut sie das - in der kurzen Lebensspanne, die ihr noch verbleibt. 

Dass Frau Böhm eigensinnig ist, zeigt auch ihre Antwort auf die Frage, was für sie denn von Bedeutung  sei:  „Autobahn“, sagt  Frau Böhm. Ja – warum denn auch nicht?


 

[1]Kathrin Feldhaus/Margarethe Mehring-Fuchs, Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen, hsrg. v. d. Veronika-Stiftung Rottenburg, Ostfildern 2016.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21824
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