SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Ja. In diesem Sonnenschein wolln wir alle glücklich sein.“ Wie einen Refrain wiederholt und variiert die alte Dame diesen Satz immer wieder: „Ja. In diesem Sonnenschein wolln wir alle glücklich sein.“ Rosa heißt sie. Das Gespräch mit Rosa habe ich in dem Buch „Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort“ gelesen. Zwei Autorinnen beschreiben darin ihre Begegnungen mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind.[1] 

Sie leben in einem Land des Vergessens. Und doch sind oft starke Erinnerungen in ihnen lebendig – an Menschen, an glückliche oder auch an leidgeprägte Beziehungen, die jemand ein Leben lang begleiten. Und die sich gegen das Vergessen behaupten. 

Rosa sagt zu der Interviewerin immer Oma. Sie fragt: „Oma, magst du mich?“ Sie sagt: „Mag mich doch! Oma, denk doch an mich! Sei lieb mit mir.“ Und: „Oma sei mit mir. Und hab mich gern.“ Welche Rolle spielte die Oma, als Rosa noch ein Kind war? Was bedeutet sie im Leben von Rosa immer noch – wenige Monate vor ihrem Tod? War sie die Zuflucht des Kindes? Oder bricht im hohen Alter die Angst wieder durch, die Oma könnte der kleinen Rosa ihre Liebe entziehen und sich von ihr abwenden? Und Rosa könnte sich dieser Liebe nur sicher sein, wenn sie der Sonnenschein, das immer liebe und fröhliche Kind ist? Selbst wenn es ihr nicht gut geht? Vielleicht hat sie schon als Kind diese Lektion für ihr Leben gelernt: Lass dir nicht anmerken, wenn es dir schlecht geht. Sei immer die Starke, die Fröhliche, der Sonnenschein. Sonst könntest du die Menschen verlieren, die dir am meisten bedeuten. 

Der Refrain von Rosa verändert sich im Laufe des Gesprächs. Sie sagt nicht mehr: „Wir wollen alle glücklich sein“, sondern: „Ganz allein wolln wir froh und glücklich sein.“ Und dann fließen Sätze ein wie: „Ich bin fertig.“, „Mir tut das linke Bein so weh.“, „Oma, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.“ 

Rosa lässt mich in diesem Interview in ihr Leben blicken. Und ich frage mich: Welche Kraft musste diese Frau vielleicht ein Leben lang aufwenden, weil sie glaubte, sich hinter einem Vorhang von Lebensfreude und Sonnenschein verbergen zu müssen? Und welche Einsamkeit lässt sich erahnen, wenn sich der Vorhang ein klein wenig öffnet.


 

[1]Kathrin Feldhaus/Margarethe Mehring-Fuchs, Wenn der Kopf hinausgeht, ganz weit fort. Wie Menschen mit Demenz das Leben sehen, hrsg. v. d. Veronika-Stiftung Rottenburg, Ostfildern 2016

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21823
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