SWR2 Wort zum Tag

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Was ist das, was Europa zurzeit mit den Flüchtlingen macht? Ist das nicht so etwas wie ein „moralischer Karfreitag“? Am Karfreitag ist Jesus gestorben. Derzeit sterben zentrale europäische Werte. Da sitzen Menschen verzweifelt in Lagern fest, vor sich immer mehr Zäune. Geschlossene Grenzen. Die vor allem eines sagen. ‚Humaner Umgang? Nicht für Euch.‘

Ich fürchte, das ist mehr als eine Bankrotterklärung. Ein Unternehmen kann Bankrott gehen. Aber Europa ist mehr als ein Unternehmen. Europa ist eine Wertegemeinschaft: Gegründet auf Solidarität und Menschlichkeit. Menschliche Werte gehen nicht bankrott. Sie sterben. Moralischer Karfreitag. Ob Europa aus diesem Tod wieder auferstehen wird?

Vielleicht klingt das für Sie als wollte ich über das Versagen „der Politik“ schimpfen. Nein, das will ich nicht. Dieser moralische Karfreitag ist keiner der Politik. Es ist meiner. Und vermutlich auch Ihrer.

Denn, was habe ich empfunden beim Flüchtlingsdeal mit der Türkei? Entlastung. Die Flüchtlinge an den Zäunen zu unserem Europa verschwinden aus den Nachrichten. Sie werden als ‚Illegale‘ weggebracht. Das Problem scheint erledigt. Aber die Flüchtlinge sind nicht weg. Nur ihre Bilder. Und ich schreie nicht auf. Im Gegenteil - ich fühle mich entlastet. Als ich das gemerkt habe, bin ich vor mir selber erschrocken. Es ist mein moralischer Karfreitag.
Im christlichen Glauben kommt nach dem Tod am Karfreitag die Auferstehung. Können diese Werte wieder auferstehen?

Solidarität und Menschlichkeit, unsere europäischen Werte, haben eine wichtige Wurzel in der Bibel. Prägnant wird davon besonders an einer Stelle erzählt: In einer Szene, in der es darum geht, worauf es im Leben als Christ ankommt. Jesus sagt da: "Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, ihr habt mich gekleidet."

Da fragen die Menschen zurück: „Wann sollen wir Dich aufgenommen und gekleidet haben?“ Da sagt er: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan."

Das ist für mich eine Urkunde europäischer Werte:
Arme Menschen werden zu Bruder und Schwester. Wie ich mich zu Not Leidenden stelle, das macht menschlich oder unmenschlich. Ich glaube, ich muss dafür kämpfen, dass diese Werte wieder auferstehen und leben. In mir selbst zuerst.

Und Europa soll nicht im moralischen Karfreitag stecken bleiben. Mit dem Türkei-Abkommen ist die Not der Flüchtlinge nicht erledigt. Der Deal ist nur der Anfang, ein Durchgang zu einem humanen und christlichen Leben mit Menschen in Not.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21809
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