Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Der kleine Junge schreit um sein Leben. Die angsterfüllten Augen hat er weit aufgerissen. Tränen laufen über sein Gesicht. Er findet keinen Halt. Die glitschigen Felsvorsprünge rutschen ihm unter den Füßen weg. Um ihn herum peitscht das ägäische Meer. Seine orange-rote Rettungsweste zeigt an: Höchste Gefahr. In dem Moment drückt ein Fotograf auf seine Kamera und hält die ganze Dramatik des Augenblicks fest – dieses Bild ist jetzt auf einem Plakat des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, kurz UNHCR, zu sehen.

Abdul, ein Freund aus Syrien zeigt mir das Plakat auf seinem Handy. Und dann sagt er: „Das ist mein Neffe.“  „Was?“, mir stockt der Atem. Sofort habe ich das schreckliche Bild von Aylan Kurdi im Kopf, dem syrischen Jungen, der tot am Strand lag.  „Wo ist der Junge jetzt?“, frage ich. Abduls Antwort verblüfft mich: Er geht in den Kindergarten, ein paar Orte weiter von hier.

Das Bild lässt mich nicht mehr los – der dreijährige Junge, der vom Meer fasst verschlungen wurde, lebt – und ganz in meiner Nähe. Ich will ihn und seine Familie kennenlernen. Wir setzen uns ins Auto und fahren hin.

Der Junge vom Plakat begrüßt uns schon an der Haustür: „Hallo, ich bin Mourhaf.“ Er lacht und freut sich über den Besuch. Springt auf dem alten Dielenboden des Hauses, in dem er nun mit seiner Großfamilie wohnt. Die erzählt mir von den Risiken der Überfahrt, vom Sturm und dem Wasser im Boot. Und dass der kleine Mourhaf in diesen Stunden die Welt nicht mehr verstanden habe.

„Warum geht ihr mit einem kleinen Kind so ein Risiko ein?“, frage ich die Familie. „Willst du unser Dorf in Syrien sehen?“, fragen sie zurück. Sie zeigen mir Aufnahmen aus dem Internet: Zu sehen sind eine graue Trümmerlandschaft, Raketenhagel, Bomben. „Niemand wohnt mehr dort“, sagt Mourhafs Vater, der früher als Landwirt die Felder bestellt hat, auf denen heute nur noch Panzer rollen. „Alle sind geflüchtet oder gestorben.“

Mourhaf klettert währenddessen immer wieder in die Arme seines Vaters. Umklammert fest seine Hände. Weit weg von den Wogen des Meeres, wiegt der seinen kleinen Sohn hin und her. Auch das ein Bild, das ich nicht vergessen werde.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21777
weiterlesen...