SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

oder etwas weniger Eitelkeit

Ich schlage das Buch auf. Ich lese in der Bibel, im Neuen Testament: „Jesus und seine Jünger zogen durch Galiläa, sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: „Worüber habt ihr unterwegs gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer von ihnen der Größte sei. Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen, und der Diener aller sein.“ Ich klappe das Buch zu. „Denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer von ihnen der Größte sei.“ Der Satz geht mir nicht aus dem Sinn, immer wenn ich ihn höre piekst er mich. Auch die großen Jünger waren von der Eitelkeit nicht verschont, auch wenn man meinen müsste, sie hätten davon frei sein können, so in unmittelbarer Nähe des Meisters. Eine uralte Krankheit: vergleichen, sich grundlos messen, taktieren, kämpfen und siegen müssen. Als Spiel mag das ja reizvoll sein, herausfordernd sogar, wenn es ein Spiel bleibt. Wenn Verlierer und Sieger einander gewogen bleiben. Die Idee von Olympia meinte das mal. Aber wenn aus dem Spiel Ernst wird, die Eitelkeit in den Vordergrund tritt… „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Ein Hauptsatz aus dem Evangelium. Keine Moralkeule; Gelassenheit, Distanz zu sich selbst ist Jesu Empfehlung. Sich wichtig nehmen, aber nicht zu wichtig. Manche schaffen das, ganz undramatisch. Zum Beispiel Papst Johannes XXIII. Beim Einzug in seine Wohnung, so erzählt man, setzte sich der neugewählte Papst auf eine Kiste, um sein tägliches Gebet zu verrichten. Als er fertig war, ging er weiter, um die Räume zu besichtigen, die er noch nicht kannte. In einem Zimmer waren Arbeiter damit beschäftigt, Kisten herauszutragen. Einer von ihnen arbeitete gebückt und verdeckt durch eine Kiste, als der Papst sagte: ‚Ich störe doch nicht?’ Der Arbeiter, der hinter der Kiste stand, glaubte die Stimme eines seiner Kollegen zu erkennen und gab zurück: ’Hör’ auf mit dem Blödsinn und hilf mir lieber.’ Da trat der Papst hinzu und fing an zu räumen. In diesem Augenblick schaute der Arbeiter hoch und murmelte blass vor Befangenheit: ‚Heiligkeit, Heiligkeit! Johannes lachte, segnete ihn und seine Kollegen, und bat dann die Arbeiter, mit ihm zu essen. Aber sie waren so befangen, dass sie nicht mochten. Als der Papst dies bemerkte, drängte er sie nicht, wünschte ihnen ‚Guten Appetit’ und ließ sie allein. Größe zeigt sich schlicht durch uneitle Echtheit. An welchem Platz auch immer.

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