Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Papa! Die Oma hat uns Bilder gezeigt. Von dir. Von früher. Du sahst ja mal richtig gut aus.“ „Na, danke“, sage ich.

Meine Kinder haben bei meinen Eltern übernachtet. Oma und Opa haben sie wie immer nach Strich und Faden verwöhnt. Und dabei in alten Erinnerungen gekramt. Meine Kinder sind gerade in dem Alter, in dem sie es ganz faszinierend finden, dass ihre Eltern auch mal jung waren. Sie entdecken, dass es ein Leben vor ihnen gab.

Ich drehe mich zu meiner Tochter um: „Soll das heißen, ich sehe heute nicht mehr gut aus?“ Jetzt windet sie sich. Sie merkt, dass ich Spaß mache, aber ganz geheuer ist es ihr doch nicht. „Naja“, sagt sie, „heute siehst du nicht mehr so aus früher. Aber ich habe dich gleich erkannt.“

Das ist der Punkt, denke ich. Das Erkennen. In der Bibel sagt der Apostel Paulus, dass wir uns selbst nicht richtig erkennen können. Wir sehen uns und alle anderen wie in einem dunklen Spiegel. Nur Gott weiß, was in jedem wirklich vorgeht. Ich merke das immer dann, wenn ich jemanden lange nicht gesehen habe. „Den hätte ich ja kaum noch erkannt.“ Das ist so ein Satz.

Ich sehe einen Kumpel von früher und denke: „Sehe ich genauso alt aus wie der?“ Es geht um das Erkennen. Paulus meint: Nur Gott erkennt uns so, wie wir wirklich sind. In der Tiefe unseres Herzens. Ich finde das tröstlich. Dass jemand mich wirklich kennt, das ist sogar unter Freunden, selbst in der Familie selten. Auch wenn man meint, man würde sich kennen.

Gott kennt mich. Das ist ein ungeheurer Glücksfall. Ich muss mich nicht verstellen. Ich muss mich nicht „aufhübschen“. Muss nicht die ganzen Erfolge vorstellen. Da kennt mich jemand und der meint es gut mit mir.

Meine Tochter tröstet mich: „Ich finde dich heute auch gut. Macht ja nichts, dass du nicht mehr so hübsch bist wie früher. Du bist ja auch mein Papa.“ Seltsam schräge Argumentation – aber trotzdem muss ich lächeln. 

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